Falsches Spiel in Brodersby Stefanie Ross Privates Glück und tödliche Gefahr – Landarzt Jan Storm am Limit
Mit Ende der Urlaubssaison verirren sich nur noch wenige Touristen in die idyllische Landschaft zwischen Ostsee und Schlei. Doch von Ruhe kann für Landarzt Jan Storm keine Rede sein. Beweist der ehemalige Soldat sonst eiserne Nerven, macht ihn die bevorstehende Geburt seines ersten Kindes ungewohnt nervös. Als ein Mädchen in Kontakt mit weißem Phosphor gerät, überschlagen sich in Brodersby die Ereignisse. Denn die Substanz sieht nicht nur Bernstein zum Verwechseln ähnlich, sondern war auch einer der Hauptbestandteile von Brandbomben im Zweiten Weltkrieg. Von diesen militärischen Altlasten liegen noch heute Tausende in der Ostsee – und sind nach wie vor gefährliche Waffen, für die Terroristen gut bezahlen … Stefanie Ross Mehr von Stefanie Ross und Jan Storm: Das Schweigen von Brodersby. ISBN 978-3-89425-490-2 Jagdsaison in Brodersby. ISBN 978-3-89425-584-8 Schatten über Brodersby. ISBN 978-3-89425-597-8 Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de (http://dnb.d-nb.de) abrufbar. © 2020 by GRAFIT in der Emons Verlag GmbH Cäcilienstraße 48, D-50667 Köln Internet: http://www.grafit.de (http://www.grafit.de) E-Mail: info@grafit.de (mailto:info@grafit.de) Alle Rechte vorbehalten Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Kossack, Hamburg. Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/R70 (Gänse), Maksimilian (Gans/See), arvitalyaart (Landschaft) Gestaltung Innenteil: César Satz & Grafik GmbH, Köln Lektorat: Nadine Buranaseda E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck ISBN 978-3-89425-755-2 1. Auflage 2020 Die Autorin Stefanie Ross wurde in Lübeck geboren und verbrachte einen Teil ihrer Schulzeit in Amerika. Nach dem Studium der Betriebswirtschaftslehre folgten leitende Positionen bei Banken in Frankfurt und Hamburg. 2012 erschien mit Das Schweigen von Brodersby der erste Roman ihrer Reihe um den charismatischen Landarzt Jan Storm. www.stefanieross.de (http://www.stefanieross.de) Kapitel 1 Der letzte Patient des Tages hatte das Behandlungszimmer kaum verlassen, da wandte sich Jan Storm bereits wieder seinem Computer zu. Er hatte jede freie Minute zwischen den einzelnen Terminen genutzt, um einen Fachaufsatz über Schwangerschaftsvergiftungen im letzten Trimester genauestens zu studieren. Kaum hatte er den Absatz, bei dem er unterbrochen worden war, wiedergefunden, da stürmte seine Sprechstundenhilfe Gerda ins Zimmer, natürlich ohne anzuklopfen. Obwohl er sofort mit einem Mausklick das Fenster minimierte, war er nicht schnell genug gewesen, um den Bildschirminhalt vor ihr zu verbergen. Die Hände in die Taille gestemmt, funkelte sie ihn an. »Das darf doch wohl nicht wahr sein! Ich habe gemerkt, dass dich etwas die letzte Stunde beschäftigt hat.« Damit blieb Jan nur die Hoffnung, dass Gerda die englische Überschrift des Artikels nicht verstand. »Sekunde mal, was regst du dich denn so auf? Der Artikel ist sehr ordentlich geschrieben und hat eine interessante statistische …« »Du übertreibst es und machst dich völlig unnötig verrückt. Also wirklich, Jan. Deine Lena ist kerngesund und das gilt auch für euer Kind! Sie ist doch nicht die erste Frau, die ein Kind bekommt, aber genauso tust du!« »Ich …« »Computer aus und dann ab an die frische Luft! Fahr ans Meer.« Sie schüttelte so heftig den Kopf, dass sich einzelne Strähnen ihres locker gebundenen Pferdeschwanzes lösten. »Schwangerschaftsvergiftung. Also wirklich. Das wird bei jedem Vorsorgetermin abgecheckt.« Auch wenn Gerda gut zwanzig Jahre älter war als Jan, jedoch keineswegs wie eine Mittfünfzigerin wirkte, tolerierte er es eigentlich nicht, dass sie ihn wie einen unmündigen Jungen behandelte. Eigentlich. Denn ab und zu musste er zugeben, dass sie mit ihren Vorwürfen ins Schwarze traf. Dies war eindeutig einer dieser Fälle. Mit etwas Abstand betrachtet, sah er selbst, dass er sich zu viele Sorgen um seine schwangere Lebensgefährtin – er verbesserte sich rasch in Gedanken –, seine Frau machte. Dennoch konnte er nichts dagegen tun. Irgendwie musste er nicht nur die letzten Tage bis zur Geburt überstehen, sondern sich bis dahin in einen abgebrühten Vater verwandeln, der den Säugling nicht jede Sekunde im Arztmodus scannte. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich das mal sage, Jan. Doch ich wünsche mir gerade, dass du wieder mit Jörg losziehst, um einen miesen Verbrecher hinter Gitter zu bringen. Alles ist besser als das.« Gerda klopfte so stark auf den Monitor, dass der Flachbildschirm wackelte. »Ha, wenn man vom Teufel spricht … Jörg steuert gerade aufs Haus zu.« Sie eilte davon. Da sein Freund in der Lage war, den Weg zu ihm alleine zu finden, ahnte Jan, dass Gerda ihm einiges stecken wollte. Verdammt. Jörg Hansen grinste buchstäblich von einem Ohr bis zum anderen, als er in das Zimmer trat. »Ich habe den Befehl erhalten, dich hier rauszuschaffen und nach Möglichkeit ein Treffen mit einem Serienkiller zu organisieren.« Stöhnend fuhr Jan seinen PC runter. An Ruhe war nun nicht mehr zu denken. »Gerda übertreibt!« »Glaube ich nicht. Na komm, ich habe Ginger im Wagen. Wir holen dieses schwarze Ungeheuer, das du Hund nennst, und fahren an die Steilküste.« »War das ein Vorschlag?«, hakte Jan bissig nach. Jörg legte den Kopf schief. »Nein. Ich habe frei und langweile mich, weil Andrea für deine Tante unterwegs ist, damit bist du moralisch verpflichtet, einem Freund zu helfen. Außerdem weiß ich, dass Lena auch nicht zu Hause ist.« Die abstruse Begründung brachte Jan zum Schmunzeln. »Überzeugt. Wir treffen uns gleich bei mir, da kannst du das angebliche Ungeheuer, das übrigens immer noch Tarzan heißt, und mich abholen. Denn eins ist klar: Meinen Wagen versaue ich mir mit den sandigen Hundepfoten nicht!« Unerwartet ernst sah Jörg ihn plötzlich an. »Was ist?«, erkundigte sich Jan ratlos. Jörg tippte auf seine Uhr. »Falls es dir entgangen ist, wir haben Januar, die Temperaturen sind im einstelligen Bereich und du fährst morgens mit deiner Ninja in die Praxis? Ich wette, die Straßen waren sogar glatt. Wenn dein Audi kaputt wäre, würde er bei Richie auf dem Hof stehen. Also sagt mir mein messerscharfer Polizistenverstand, dass was bei dir nicht stimmt.« »Ich habe zu spät bemerkt, dass es glatt war«, wehrte Jan ab. »Wie du meinst. Wenn du nicht jetzt reden willst, wirst du es gleich am Wasser tun«, kündigte Jörg an und wandte sich einfach ab. Großartige Aussichten! Mit einem leisen Fluch folgte Jan ihm. Als er an Gerdas Tresen vorbeiging, bedachte er seine Arzthelferin mit einem bösen Blick, den sie unbeeindruckt erwiderte. »Bis morgen, Boss. Und bitte auf vier Rädern!«, schickte sie ihm hinterher. Es reichte. Sofern das Wetter es zuließ, würde er schon aus Prinzip mit dem Motorrad kommen! Wenige Schritte an der Steilküste reichten und Jans schlechte Laune war komplett verflogen. Jörgs weiß-braune Promenadenmischung tobte mit Tarzan einige Meter vor ihnen. Der Anblick, wie die Hunde vergeblich den Möwen hinterherjagten, war zu herrlich. Sogar der schwere schwarze Labradormix sprang einige Male erstaunlich hoch in die Luft. Die Wellen schlugen an den Strand und nur wenige andere Spaziergänger waren unterwegs. Während die Gegend um Brodersby, besonders der Strand in Schönhagen, und die Steilküste ein beliebtes Ziel von Touristen waren, hatten die Einheimischen ihren Ort um diese Jahreszeit beinahe für sich. »Wann erzählst du eigentlich Gerda und Co., dass Lena nicht länger deine Lebensgefährtin, sondern deine Frau ist?«, erkundigte sich Jörg mit kaum verborgenem Spott in der Stimme. Jan grinste schief. Er und Lena hatten am Sonntag vor Weihnachten nur in Anwesenheit ihrer Trauzeugen standesamtlich geheiratet. In erster Linie war es ihnen darum gegangen, dass das Kind ehelich zur Welt kam. Die kirchliche Hochzeit und eine große Feier waren erst im Sommer geplant, wenn Lena mit mindestens einem Gläschen Sekt anstoßen konnte. »Keine Ahnung. Nie? Ich kann mir ungefähr vorstellen, wie die Reaktion ausfallen wird.« Jörg lachte. »Sei froh, dass Andrea und ich als Trauzeugen Bescheid wissen. Ich wäre auch nicht begeistert gewesen, wenn ich das später erfahren hätte. Was meinst du, wie sich Markus freuen wird?« »Autsch«, erwiderte Jan und hatte plötzlich eine Liste mit Freunden vor Augen, die vermutlich über seine Heimlichtuerei reichlich sauer wären. Lachend schlug Jörg ihm auf die Schulter. »Mensch, Jan. Das war doch Spaß. Kein Mensch nimmt es euch krumm, dass ihr erst im Sommer feiert, wenn das Baby aus dem Gröbsten raus ist. Weißt du denn jetzt, was dich erwartet?« »Nein. Wir wissen nur, dass es ein kleiner Dickkopf wird, der sich bei jedem Ultraschall wegdreht. Lena ist aber weiter überzeugt, dass es ein Junge ist.« »Na, der würde auch besser zu dir passen als so ein Mädchen, das alles in Rosa haben möchte und mit Puppen spielt«, überlegte Jörg laut und blickte bedeutungsvoll zu einem vielleicht vier Jahre alten Mädchen, das direkt am Wasser mit den von der Ostsee angespülten Steinen spielte und einen rosafarbenen gefütterten Regenanzug trug, der mit weißen Einhörnern bedruckt war. Jan würde zwar sein Kind auf jeden Fall lieben, doch er musste zugeben, dass ihm der Gedanke an einen Jungen etwas besser gefiel. Andererseits gab es auch Mädchen wie Ida, die für seinen Freund wie ein leibliches Kind war. Ida war ein wahrer Wirbelwind, eine talentierte Fußballspielerin und völlig ohne Zickenallüren. Jan wollte gerade Jörg an den Teenager erinnern, als eine Frau auf sie zustürmte. »Können Sie Ihre Bestien nicht an die Leine nehmen? Das ist unverantwortlich! Wenn die auf meine Silvana losgehen, ist es zu spät.« Jan brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass es um Ginger und Tarzan ging, die sich etliche Meter von dem Mädchen entfernt aufhielten und sich nicht im Geringsten für das Kind interessierten. Ehe er antworten konnte, übernahm das Jörg. »Sie müssen sich keine Sorgen machen, beide Hunde sind sehr gut erzogen und kein bisschen gefährlich.« Jan verkniff sich mit Mühe ein Grinsen. Ginger war alles Mögliche, aber bestimmt nicht besonders gut erzogen. Dafür verwöhnte Jörg die Hündin viel zu sehr. »Das kann ja jeder sagen. Bitte nehmen Sie die Tiere an die Leine!«, forderte die Mutter, die zwar einen praktischen gefütterten Parka trug, allerdings dazu halbhohe Stiefel, die für den Sand nicht geeignet waren. »Außerhalb der Saison ist am Strand kein Leinenzwang«, erwiderte Jörg bereits etwas weniger freundlich. »Karl! Komm mal bitte und erkläre den Herren, wie die Rechtslage ist.« Sie holte ihr Handy aus der Jackentasche. »Ich behalte mir vor, die Polizei zu alarmieren, wenn Sie weiterhin mein Kind gefährden.« Jörg griff ebenfalls in die Jackentasche und hielt ihr seinen Dienstausweis hin. »Rufen Sie gerne meine Kollegen an. Aber wie gesagt …« Der schrille Schrei des Mädchens unterbrach ihn. Es klang so dramatisch, dass nicht nur die Mutter ans Wasser lief, sondern Jan und Jörg ihr folgten. Erst als er das strahlende Lachen des Kindes registrierte, schaltete Jan seinen Arztmodus wieder aus. Das sollte ein Freudenschrei gewesen sein? »Mama, guck, das ist ein Wärmstein!«, rief das Mädchen so laut und schrill, dass Jans Ohren klingelten. Tatsächlich lag auf der Handfläche des Kindes ein großer orangefarbener Brocken. »Das ist aber verdammt ungewöhnlich«, meinte Jörg und hielt dem Kind die Hand hin. »Kannst du ihn mir ganz kurz geben, ich möchte nur sichergehen, dass …« »Nun lassen Sie ihr doch den Spaß! Silvana, gib deinen Bernstein nicht her. Da hast du wirklich ein unglaubliches Glück gehabt.« Jan musterte den Brocken misstrauisch. »Sekunde mal …« Jetzt hatte sie auch der Vater erreicht. »Was ist denn hier los?« »Die Männer lassen ihre Köter frei rumlaufen und gönnen unserem Kind den Stein nicht. Es heißt aber Bernstein, Silvana. Bernstein.« Der Vater sah erst zu den Hunden hinüber, die langsam näher getrottet kamen, und dann zu seiner Tochter. »Den hast du gefunden? Gibst du ihn mir mal? Der sieht ja toll aus!« Das Mädchen wich zurück und schloss die Faust. »Nein. Das ist meiner!« »Silvana! Gib ihn kurz her. Sofort!«, forderte der Vater energisch. Statt zu gehorchen, flüchtete das Mädchen zu seiner Mutter und verbarg sich hinter ihrem Rücken. »Verdammt noch mal!«, wurde Jörg laut. »Ich kenne die Gegend. So große Brocken Bernstein sind ungewöhnlich. Es könnte sich auch um einen gefährlichen Stoff handeln.« Jan hatte längst begriffen, in welche Richtung die Überlegungen seines Freundes gingen. Immer wieder kam es vor, dass Phosphorstücke, die Bernstein zum Verwechseln ähnlich sahen, an die Ostseeküste gespült wurden. Er hatte zwar noch nie gehört, dass in der Gegend um Brodersby herum solche Überreste von Kampfmitteln aus dem Zweiten Weltkrieg gestrandet waren, aber auszuschließen war das nicht. »Schluss mit dem Theater!«, rief er. »Ich bin Arzt und möchte mich nur überzeugen, dass …« Es war zu spät. Das Mädchen schrie plötzlich gellend auf. Ihre Hand schien in Flammen zu stehen. Die Mutter reagierte sofort, allerdings völlig falsch. Sie zog ihr Kind ans Wasser. Weißer Phosphor konnte nur durch Sand gelöscht werden – wenn überhaupt. Jan blieb für Erklärungen keine Zeit. »Halte sie mir vom Leib«, befahl er Jörg und entriss der Mutter das schreiende Kind. Er drückte es zu Boden und bedeckte die Hand mit Sand. »Ruf den Heli. Der soll oben am Parkplatz landen. Das Zeug ist dermaßen giftig, dass die Verbrennung ein Kinderspiel ist.« Das Schluchzen des Mädchens wurde leiser, doch das gefiel Jan überhaupt nicht. Der Blick der Kleinen war bereits glasig. Durch das Gebrüll hatte sie viel zu hektisch geatmet und dabei vermutlich einiges von dem giftigen Rauch abbekommen. Ein unverkennbarer Geruch nach Knoblauch lag in der Luft, der typisch war für Phosphorvergiftungen. Jan überzeugte sich, dass der Sand weiterhin die Flammen erstickte, und pfiff Tarzan herbei. »Das war kein Bernstein, sondern ein ganz fürchterlich böser Stein, aber wir werden jetzt dafür sorgen, dass er dir nicht weiter schadet. Pass auf, Tarzan ist ein Zauberhund. Der kann die gefährlichen Strahlen vertreiben. Du musst dafür aber nun ganz gleichmäßig atmen, hörst du?« Jans ruhige Stimme drang zu der Kleinen durch und sie sah zu Tarzan, der sich ganz dicht neben sie legte. »Merkst du, wie sein warmes Fell alles Schlechte vertreibt? Und gleich wartet ein ganz großes Abenteuer auf dich. Du darfst mit dem Hubschrauber fliegen! Nach Kiel. Dort gibt es am Hafen Seehunde. Deine Eltern werden sie dir ganz bestimmt zeigen.« Jan redete einfach weiter, obwohl dem Kind bereits die Augen zufielen. Er kontrollierte ohne Unterbrechung Atmung und Puls, erlaubte sich dabei nur eine kurze Pause. »Wenn du ein Messer hast, schneide den Ärmel ab. Da ist das giftige Zeug auch dran. Das muss von ihr weg«, bat er Jörg. Am Rande bekam Jan mit, dass der Vater seine weinende Frau davon abhielt, ihn zu stören. Erst nachdem Jörg einen Teil des Regenanzugs entfernt hatte, sah Jan den Vater fest an. »Hat sie Vorerkrankungen? Irgendwas, das die Kollegen wissen müssen?« Stumm schüttelte der Mann den Kopf. »Wie …?« Er brachte die Frage nicht über die Lippen. Jan verstand ihn auch so. »Ernst, aber nicht lebensgefährlich. Im Moment. Das Giftzeug hat sich nicht übermäßig tief eingebrannt. Jetzt geht es darum, den Kreislauf zu stabilisieren, damit ihr Körper mit dem Rest von dem Mist fertig wird. Sie hat es leider eingeatmet …« Unruhig bewegte sich die Kleine, lag aber sofort wieder still, als Tarzan sich dichter an sie schmiegte. Gut, sonst hätte er ein Elternteil gebeten, dem bewusstlosen Mädchen etwas Nähe und Geborgenheit zu vermitteln. Während er weiter den Puls und die Atmung überwachte, blickte er übers Meer und wünschte sich, der Hubschrauber wäre bereits hier. Wenn sich der Zustand doch noch verschlimmerte, konnte er so gut wie nichts tun. Er stutzte, als er ein Boot bemerkte, das ihm zuvor nicht aufgefallen war. Bei den Temperaturen waren kaum Schiffe auf der Ostsee unterwegs. Selbst die Touristendampfer lagen irgendwo an einer Mole. Er konnte es nicht benennen, doch irgendetwas störte ihn an dem Anblick. Als er Jörg bemerkte, der neben ihm stand, deutete er mit dem Kopf in die Richtung. »Mach mal ein Foto von dem Kahn.« Ohne Fragen zu stellen, nutzte sein Freund sein Handy als Kamera. »Erledigt. Die Jungs landen jeden Moment. Sie kommen aus Eckernförde und fliegen mit der Kleinen weiter in die Kieler Uniklinik. Sie wissen Bescheid, dass es um eine Phosphorvergiftung geht.« »Sehr gut. Danke.« Endlich hörte er das Geräusch der Rotoren und wenig später lag das Kind auf der Trage. »Es kann einer mit«, sagte der Notarzt. »Flieg du mit. Aber behalte die Nerven! Du hilfst niemandem, wenn du hysterisch wirst. Ich nehme den Wagen und bin auch bald da«, entschied der Vater. Stumm nickte die Mutter und achtete sogar darauf, dass sie die Sanitäter und den Arzt nicht behinderte, während sie die Nähe ihres Kindes suchte. Über den Strand kamen nun auch zwei Polizisten in Uniform auf sie zu. Jan wartete, bis der Hubschrauber gestartet war. Dann kraulte er Tarzan ausgiebig. »Das hast du gut gemacht, Großer.« Tarzan gähnte nur, Ginger bellte. Da Jörg und Jan die Polizisten kannten, gingen die Erklärungen schnell und formlos. »Phosphor? Hier? Wat’n Schiet. Darauf könnte ich einen Korn vertragen«, sagte der ältere Beamte mehr zu sich selbst. Der Jüngere nickte. »Das gibt einen Wirbel. Hauptsache, die Lütte ist schnell wieder auf den Beinen, wir müssen Warntafeln aufstellen und …« Er zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, was noch. Da müssen sich die schlauen Köpfe in Kiel was überlegen.« Jan sah unwillkürlich wieder über die Wasseroberfläche zu dem Boot hinüber, das ein paar Meter näher gekommen war. Vielleicht hatten der Hubschrauber und die Blaulichter die Besatzung neugierig gemacht. Jörg brauchte keine Aufforderung, sondern schoss bereits weitere Fotos. Nachdenklich rieb sich der jüngere Beamte übers Kinn. »Ich verstehe das nicht. In der Kieler Förde liegt ja genug von dem Scheiß, aber hier doch nicht. Und viel Wind hatten wir auch nicht.« Jan hatte den Vater des Mädchens fast vergessen. Nun drängte er sich zwischen ihn und die Polizisten. »Entschuldigen Sie bitte. Ich möchte mich nur rasch bedanken. Ich laufe dann jetzt nach Schönhagen und hole meinen Wagen. Vielen, vielen Dank. Sie und …« Er deutete auf Tarzan. »Danke. Und das, obwohl meine Frau … Sie ist mal gebissen worden und …« Er drückte Jan eine Visitenkarte in die Hand. »Ich melde mich später. Danke.« »Ganz langsam«, mischte sich der ältere Polizist ein. »Wir bringen Sie mit dem Streifenwagen zu Ihrem Fahrzeug. Nun kommen Sie mal mit.« Als Jan und Jörg mit den Hunden wieder alleine am Strand waren, atmete Jan auf. »Mann, was für ein Drama.« Jörg sah aufs Meer hinaus. »Irgendetwas sagt mir, dass Gerdas Wunsch in Erfüllung gegangen ist. Lass uns mal ein wenig weitergehen. Vielleicht finden wir noch mehr von dem Mist.« Er hielt bereits einen Hundekotbeutel in der Hand. »Da drin kann nichts passieren, oder?« Jan überlegte, was er aus seiner Bundeswehrzeit über das Zeug wusste. »Es entzündet sich ab zwanzig Grad, also zum Beispiel, wenn du es in der geschlossenen Hand hältst oder in eine Jackentasche steckst, ansonsten eigentlich nicht.« »Hätte ich ihr den Mist bloß aus der Hand geschlagen«, murmelte Jörg. Jan legte ihm einen Arm um die Schultern. »Das habe ich auch schon gedacht, aber ganz ehrlich, damit rechnest du doch nicht. Hätte ich das ernster genommen, hätte ich der Mutter einen Tritt versetzt, dass sie in die Ostsee gesegelt wäre und …« Das Lachen kehrte in Jörgs Augen zurück. »Himmel, hat die sich erst aufgeführt.« Er wurde wieder ernst. »Ich will ihr ja keine Schuld geben, aber ohne ihre Einmischung wäre das Kind jetzt nicht auf dem Weg ins Krankenhaus.« »Tja …« Jan rieb sich übers Kinn. »Na komm, lass uns noch ein paar Meter gehen und nach dem Zeug Ausschau halten. Danach spendiere ich dir bei mir zu Hause einen ordentlichen Grog.« »Klingt gut.« Jörg blickte wieder zu dem Boot. »Ich denke, das da könnte unser nächster Fall sein.« Jan sah ebenfalls zu dem Boot und schüttelte den Kopf. »Daran habe ich auch kurz gedacht, aber besonders logisch ist das nicht.« »Stimmt. Mein Gefühl sagt mir aber was anderes.« Kapitel 2 Jörg hatte seinen Passat kaum vor Jans Haus gestoppt, da näherte sich ein weiteres Fahrzeug. Jo Karge, ein guter Freund von Jan, kam hinter ihnen zum Stehen. Der ehemalige Kampfschwimmer war über siebzig, wirkte durch seinen muskulösen Körperbau und seine aufrechte Haltung jedoch wesentlich jünger. Jo und seine Frau Helga waren für Jörg zu Ersatzeltern geworden, nachdem sie ihn als Teenager aufgenommen hatten. Beide bedauerten es ein wenig, dass Jörg mittlerweile mit Andrea und Ida zusammenlebte und seine Wohnung in ihrem Haus seitdem leer stand. Hundertprozentig glücklich waren weder Jörg noch seine Ersatzeltern mit der gegenwärtigen Situation. Leider sprachen sie nicht offen über das Thema. Jan hatte deswegen schon einige Male gedanklich mit den Augen gerollt. Die Lösung lag doch auf der Hand! Der Resthof von Jo war so groß, dass eine weitere Familie dort wohnen konnte, ohne dass man sich gegenseitig auf die Nerven ging. Jan lächelte Jo zur Begrüßung an. »Dein Timing ist perfekt, wir brauchen jemanden, der uns Nachhilfe in Phosphor gibt.« Jo blinzelte. »Aha. Aber erst einmal schaffen wir die Wiege rein.« Jörg hatte bereits in den Kofferraum gespäht und hob die Schultern, als würde er frieren. »Das Ding ist massiv und garantiert so schwer, wie es aussieht.« Für die Schlussfolgerung erntete er einen Klaps auf den Rücken, der ihn ins Wanken brachte. »Richtig, mein Sohn. Deshalb habe ich mir auch überlegt, wie wir das Teil die Treppe hochbekommen: Ihr beide schleppt und ich sage euch, wie ihr rangieren müsst.« Tolle Arbeitsteilung. Da Jan wusste, wie sehr sich Lena darüber freute, dass sie das alte Familienerbstück ausleihen durften, seufzte er nur. »Waren wir verabredet und ich habe das vergessen?« »Nö. Helgas Stricktanten sind bei uns eingefallen. Du glaubst gar nicht, was die schnattern. Da meine Frau immer leicht stinkig reagiert, wenn ich mich grundlos zurückziehe, habe ich mal die Auslieferung der Wiege vorgeschoben.« »Na, da hast du ja Glück, dass wir da sind«, kommentierte Jan die Erklärung. »Tja, gute Taten werden eben vom Karma entsprechend belohnt. Was hat es denn mit dem Phosphor auf sich?« »Erzählen wir dir drinnen. Also, nachdem wir das gute Stück die Stufen hochgewuchtet haben. Wäre das Teil nicht ein Grund, das Kinderzimmer im Erdgeschoss einzurichten?«, schlug Jörg vor. Jan grinste nur. Das alte Bauernhaus war für ein Paar perfekt gewesen, stieß mit dem Kinderzimmer und dem Wunsch von Lena nach einem Atelier jedoch an seine Grenzen, sodass für das Frühjahr bereits ein Anbau geplant war. Die Stufen, die in den ersten Stock führten, waren nicht übermäßig breit und dazu recht steil. Es dauerte eine Zeit, bis Jan und Jörg die Wiege am Bestimmungsort hatten. Jo war vorausschauend gewesen und hatte drei Flaschen Bier mit nach oben genommen. Die Männer stießen an. Jörg sah sich um und nickte. »Sieht toll aus. Gefällt mir. Das hat Lena gut hinbekommen.« Jan folgte seinem Blick und prostete ihm zu. Lena illustrierte Bücher, hatte sich aber auch mit ihren Bildern mittlerweile einen Namen gemacht. Tagelang hatte sie eine hellgraue Wand mit Fantasiefiguren bemalt, die dem Kinderzimmer eine individuelle Note verpassten. Unzählige Kartons und Tüten standen in einer Ecke und warteten darauf, ausgepackt zu werden. Jan hatte keine Ahnung, wofür der ganze Kram sein sollte, doch das würde er schon noch herausfinden. »Lasst uns nach unten gehen«, schlug er vor. Kaum hatten sie es sich in der Esszimmerecke bequem gemacht, fasste Jörg die Ereignisse am Steilufer für Jo zusammen. Der ehemalige Kampfschwimmer pfiff leise durch die Zähne. »Das wäre für den Tourismus überhaupt nicht gut, wenn das Zeug nun auch hier angeschwemmt wird.« »Kann das denn überhaupt sein?«, hakte Jan sofort nach. Als Jörg ihn mit erhobener Augenbraue ansah, präzisierte er seine Frage. »Logisch, der Brocken war ja da. Ich meine, ob das eine totale Ausnahme war oder ob ab sofort öfter mit dem Mist zu rechnen ist. Ich dachte, Phosphor findet man in anderen Küstenbereichen.« Jo blickte an Jan vorbei durch das Küchenfenster hinaus auf die Ostsee. »Gute Frage, ich mache mich mal schlau.« Er musterte die beiden Männer streng. »Ihr wisst hoffentlich, dass der Dreck aus dem Zweiten Weltkrieg stammt, und das war weit vor meiner aktiven Zeit!« Jan und Jörg grinsten sich an. »Alles gut, Jo. Niemand hält dich für einen Weltkriegsveteranen«, beschwichtigte Jörg ihn. »Genau, wir wissen, dass du ein ›Kalter Krieger‹ warst«, fügte Jan hinzu und spielte auf die Zeit des Ost-West-Konflikts an, in der Jo an geheimen Missionen der Bundeswehr teilgenommen hatte. »Macht nur so weiter und ihr …« Jörg schob ihm sein Smartphone zu. »Reg dich nicht auf. Uns ist dieses Boot aufgefallen. Mehr als ein schlechtes Gefühl haben wir aber leider nicht anzubieten. Sagt dir der Kahn was?« Jo kratzte sich am grauen Vollbart, während er sekundenlang das Bild studierte. »Schon so’n büschen merkwürdig, dass der Mist nicht nach einem Sturm angespült worden ist. Das Boot ist für eine Tauchfahrt ausgerüstet, aber das habt ihr Landratten wohl selbst bemerkt.« Jan nickte. »Aber wer taucht denn bei dem Wetter? Das ist doch selbst mit Topanzügen total kalt und unangenehm.« Jo murmelte etwas, das wie »Weichei« klang, und blickte Jan spöttisch an. »Es gibt Taucher, die lieben diese Temperaturen.« »Und was sind das für Idioten?«, fragte Jörg. »Minentaucher«, übernahm Jan die Antwort. Erst jetzt fiel ihm ein, dass die niedrigen Temperaturen bei der Bergung von Munition und Kampfmitteln geschätzt wurden. »Ganz genau«, bestätigte Jo. »Wenn du mich fragst, ist das sogar die einzige Erklärung, warum der Phosphor angespült worden ist.« »Eine schlampige Bergung?«, überlegte Jörg laut. »Wer sollte denn so einen Mist freiwillig hochholen?« »Keine Ahnung«, erwiderte Jo, »aber etwas sagt mir, dass wir bald Experten für dieses Thema sind. Ich schicke mal eine WhatsApp an Felix. Er ist bestimmt froh, wenn er was zu tun bekommt. So’n paar Recherchen sind genau das, was er braucht.« »Kennst du denn das Boot?«, hakte Jan nach. »Nö. Nie gesehen und das verrät uns ja auch was. Aus Kappeln oder Olpenitz stammt der Kahn nicht, dann würde ich den kennen.« »Die meisten Boote liegen im Winterquartier. Welche Häfen haben denn überhaupt auf?«, erkundigte sich Jörg. Jo zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Es kann ja jemand einen Steg an der Schlei oder der Ostsee haben. Oder er lässt das Boot vom Hänger aus ins Wasser. Übermäßig groß sieht es nicht aus. Ein großer SUV könnte das Teil schleppen. Seid ihr sicher, dass das Boot und der Phosphorfund etwas miteinander zu tun haben?« Jan verzog den Mund. »Wir haben nicht mehr als ein dummes Gefühl. Und vielleicht noch die vage Theorie von der schlampigen Bergung. Viel ist das wirklich nicht. Es reicht gerade mal, um sich ein paar Informationen zu beschaffen.« Jo schüttelte schmunzelnd den Kopf. »Habt ihr Jungs so viel Zeit, dass ihr unbedingt die nächsten Ermittlungen benötigt?« Jan und Jörg wechselten einen schuldbewussten Blick, insbesondere Jan fühlte sich unangenehm durchschaut. Er deutete nach draußen. »Wenn schon Frühjahr wäre, könnte ich mich um den Anbau kümmern, so bin ich mit der Praxis tatsächlich nicht ganz ausgelastet.« »Fährst du deshalb bei dem Wetter und den Straßenverhältnissen mit der Ninja?«, fragte Jo sichtlich besorgt. Da hatte der Dorfklatsch ja mal wieder ganze Arbeit geleistet. Jan unterdrückte mit Mühe eine genervte Antwort, die Jo nicht verdient hatte. »Das war eine Ausnahme. Ich bin doch nicht bescheuert und gehe unvertretbare Risiken ein.« Jo blitzte ihn an. »Von wegen. Wenn sich erst mal herumspricht, dass unser Herr Doktor heimlich geheiratet hat, wirst du dir wünschen, ganz weit weg zu sein.« »Erinnere mich nicht daran. Dabei holen wir die Feier im Sommer nach.« »Tja, sogar Helga hat mindestens eine Stunde lang missmutig vor sich hin gebrummt, weil nur der Bengel und seine Holde dabei gewesen sind.« Jörg zog den Kopf ein. »War nicht meine Idee«, verteidigte er sich. »Der ist schuld«, fügte er hinzu und deutete mit der Bierflasche in Jans Richtung. »Etwas Abwechslung wäre tatsächlich nicht schlecht. Ich habe noch jede Menge Resturlaub, Andrea leider keinen einzigen Tag. Und für Jans Anbau ist es ebenso zu kalt wie für den Steg, den wir bei uns ein bisschen ausbessern sollten.« Jo brummte zustimmend. »Wo wir gerade unter uns sind: Meinst du, das Verhältnis zwischen Helga und Andrea lässt so langsam mal eine gewisse Frage zu?« Jan hielt unwillkürlich die Luft an. Ging es jetzt darum, dass es reichlich schwachsinnig war, dass Jörg und Andrea Miete zahlten, wenn sie eine größere Wohnung direkt am Wasser auch umsonst haben konnten? Jörg nickte langsam. »Du weißt, dass ich begeistert wäre, wieder bei dir und Helga zu wohnen. Ida würde sofort zustimmen, nur mit Andrea ist das ein wenig schwieriger. Ich arbeite dran.« »Gut. Vielleicht hilft es dir ja, dass wir vorhaben, dir den Hof zu überschreiben. Es wäre doch bescheuert, damit zu warten, bis wir unter der Erde sind und dann die Erbschaftssteuer und so’n Kram anfallen. Ich habe Liz gebeten, mal einen passenden Vertrag aufzusetzen.« Jörg starrte Jo an, als hätte der sich vor seinen Augen in einen Alien verwandelt. »Ich lasse euch mal kurz alleine«, bot Jan an. »Quatsch, du gehörst praktisch zur Familie«, wehrte Jörg ab und räusperte sich. »Also nicht, dass ich mich nicht freuen würde, aber was sagen deine Kinder dazu?« Ratlos blickte Jo ihn an. »Na, was schon? Dass das längst fällig ist! Du hast mir die ganzen letzten Jahre mit dem Hof geholfen. Meine Söhne lieben die Gegend leider nicht so wie wir. Sie werden ja nicht leer ausgehen, aber der Hof gehört dir.« »Aber der ist ein Vermögen wert und …« »Willst du dich jetzt mit mir anlegen?« »Na, das dann doch nicht.« Es war Zeit, die ernste Stimmung aufzulockern. »Ein Jammer, dass ihr noch fahren müsst. Da muss ich wohl auf den zukünftigen Großgrundbesitzer ganz alleine mit einem ordentlichen Whisky anstoßen«, stellte Jan fest und erntete prompt beleidigte Blicke. Sein Handy vibrierte und erstickte Jörgs Erwiderung im Ansatz. Die Nummer gehörte einem guten Freund von Jan, Heiner Zeiske, einem ehemaligen Polizisten. »Komm mal schnell zum Gerätehaus der Feuerwehr in Schönhagen«, befahl Heiner. »Hier liegt einer, mehr tot als lebendig.« Jan wurde in solchen Fällen regelmäßig angerufen, weil er häufig schneller als der Notarzt vor Ort sein konnte. Er sprintete los und griff nach seinem Rucksack mit der Notfallausrüstung, der immer im Flur bereitlag. Jörg war dicht hinter ihm. »Ich fahre dich«, bot er an. »Und ich passe aufs Haus auf«, schickte ihnen Jo hinterher. Da Jörg sämtliche Verkehrsregeln ignorierte, erreichten sie den Ort in wenigen Minuten. Jan sprang aus dem Wagen und lief zu Heiner, der vor der Feuerwehr neben einem Mann hockte. »Ich weiß echt nicht weiter«, rief er Jan zu. Heiners Frau Irene stand mit einem Mobiltelefon in der Hand wenige Meter entfernt. »Die haben noch einen anderen Einsatz, es dauert, bis der Notarzt kommt.« Der Mann sah aus wie Anfang zwanzig und hatte hellblondes Haar. Die weiß gräuliche Gesichtsfarbe war ebenso besorgniserregend wie die kaum spürbare Atmung und der schwache Puls. Jan beugte sich über den Mann und runzelte die Stirn. Zum zweiten Mal an diesem Tag roch er Knoblauch. Vergiftungen durch weißen Phosphor hatten häufig diese Begleiterscheinung, das ergab allerdings keinen Sinn. Der Mann murmelte etwas in einer fremden Sprache. Jan verstand nur das Wort »Nadescha«. Vielleicht der Name seiner Frau. Vorsichtig öffnete Jan den Kiefer des Unbekannten. »Leuchte mal«, bat er niemand Bestimmten, aber Heiner kam der Aufforderung sofort nach, indem er die Taschenlampenfunktion seines Handys nutzte. Mundhöhle und Hals wiesen Wunden auf, wie sie für Verätzungen typisch waren. Jan war kein Experte für solche Fälle, tippte jedoch darauf, dass der Mann Phosphorgas eingeatmet hatte. Er hatte die Grenzwerte nicht im Kopf, wusste nur, dass schon geringe Mengen tödliche Folgen hatten und die Schäden so gut wie unumkehrbar waren. Langsam schüttelte er den Kopf. »Er gehört auf eine Intensivstation.« Nie würde er sich an die Hilflosigkeit gewöhnen, die manchmal Teil seines Jobs war. Unerwartet flatterten die Lider des Mannes und sein Blick fokussierte sich. Jan tastete nach seiner Hand und drückte sie fest. »Hilfe ist unterwegs. Bleiben Sie ganz ruhig.« »Das Geld soll Nadescha bekommen«, flüsterte der Unbekannte kaum verständlich und hustete schwach. Jan wollte ihn stützen, doch plötzlich floss ein dünnes Rinnsal Blut aus dem Mundwinkel des Mannes. Ein letzter keuchender Atemzug und die hellblauen Augen starrten in den Himmel. »Verdammt«, flüsterte Jan und spürte im nächsten Moment die Hand von Jörg auf seiner Schulter. »Wenn du nichts tun konntest, ist es so«, sagte sein Freund. Schwerfällig stand Jan auf. »Ich vermute, er ist an inneren Blutungen im Lungenbereich gestorben. Genaueres wird die Obduktion zeigen.« Es dauerte weitere zehn Minuten, bis sie das Geräusch von Martinshörnern hörten. Irene hatte sich in die Umarmung ihres Mannes geflüchtet und vermied jeden Blick auf die Leiche. Jörg hatte eine Rettungsdecke aus dem Wagen geholt und den Mann zugedeckt. Die goldene Folie knisterte im leichten Wind. »Hast du eine Idee, was ihn umgebracht hat?«, erkundigte sich Jörg leise. »Auch wenn es verrückt klingt, ich tippe auf eine Vergiftung durch Phosphorgas. Dazu würden die Symptome und der Geruch nach Knoblauch passen.« »Wenn ich an das Mädchen denke, ist das vielleicht gar nicht so abwegig«, erwiderte Jörg und eilte zu dem Streifenwagen, der in diesem Moment dicht vor ihnen hielt. Jan notierte sich innerlich, dass es eigentlich nicht sein konnte, dass der Notarzt immer noch nicht eingetroffen war. Er rieb sich über die Stirn und war froh, dass sein Freund die nötigen Erklärungen übernahm. Nachdem er Heiners fragende Miene bemerkt hatte, ging er zu dem Ehepaar. »Danke, dass du angerufen hast. Leider konnte ich nichts mehr für ihn tun.« Der ehemalige Polizist schielte über die Schulter seiner Frau zu der Leiche. »Der war höchstens zwanzig. Was für ein Jammer. Hast du eine Idee, was ihn umgebracht hat?« »Ich bin nicht sicher. Mein Tipp wäre eine Vergiftung durch Phosphor.« Irene fuhr so schnell herum, dass ihr Mann zurückstolperte. »Das Zeug, das schon das Mädchen verbrannt hat? Das gibt’s doch gar nicht!« Jan nickte langsam. »Die Kleine hatte üble Verbrennungen an der Hand und etwas von dem Gift eingeatmet. Das hier sah nach intensiverem Kontakt aus. Mundbereich und vor allem der Hals des Mannes waren böse verätzt und letztlich ist wohl die Lunge kollabiert. Aber frag mich nicht, wie das zusammenhängt …« Irene zielte mit ihrem Zeigefinger auf Jan. »Wenn sich die Polizei nicht darum kümmert, dann übernehmt ihr das! So etwas darf es in Brodersby nicht geben. Wie gut, dass keine Saison ist, sonst bleiben uns noch die Touristen weg. Heiner hat sich sowieso schon gelangweilt, also seht zu, dass ihr das klärt!« Jan öffnete den Mund und schloss ihn wieder, ohne dass er etwas gesagt hatte. Anscheinend galt er im Dorf nicht nur als Arzt, sondern auch als Sherlock-Holmes-Ersatz. Heiner grinste schief. »Streite lieber gar nicht erst ab, dass dich der Fall reizt, Jan.« »Mache ich nicht. Ich habe nur überhaupt keine Idee, was hier eigentlich los ist oder wo wir ansetzen sollen.« »Das kommt noch«, verkündete Irene und nickte jemandem hinter Jans Rücken zu. »Die Herren warten offensichtlich auf dich.« Jan drehte sich um und entdeckte die beiden Streifenbeamten, die in seine Richtung blickten. Er wiederholte seine Einschätzung und erntete ein zweistimmiges Brummen. Der jüngere Beamte hielt einen Ausweis in der Hand. »Das Opfer ist Russe. Also einen Sinn erkenne ich gerade so gar nicht und würde sagen, wir überlassen das alles den Kollegen von der Kripo.« Sein älterer Kollege neigte den Kopf zur Seite. »Nee. Rechne mal mit dem LKA. Bei Kampfmitteln sind die zuständig. Aber warten wir erst mal ab, ob die Rechtsmediziner die Einschätzung unseres Docs bestätigen. Danke für deinen Einsatz, Jan. Komm morgen mal bitte in Kappeln vorbei, damit du ein Protokoll unterschreiben kannst. Ich bereite das vor, damit du nur noch deinen Namen drunterkritzeln musst.« »Mach ich. Danke.« Jan sah Jörg auffordernd an. »Lass uns nach Hause fahren, ich brauche nun wirklich was Starkes. Wat’n Schiet.« Kapitel 3 Elisabeth Schönfeld, die von allen »Liz« genannt wurde, überflog die E-Mail ein zweites Mal und hatte nach wie vor keine Idee, wie sie mit der Bitte von Jo umgehen sollte. Manchmal könnte sie alle Männer erschießen. Und mit Jan und Jo würde sie beginnen. Erst glaubte der Bengel, sie würde nicht bemerken, dass er heimlich seine Lena geheiratet hatte, und nun zog Jo sie noch in seinen ureigenen Familienkonflikt rein. Hatte der Dösbaddel denn vergessen, dass Andrea für sie arbeitete? Er hätte es verdient, dass sie die Mail einfach an Andrea weiterleitete und auf das drohende Gewitter wartete! Als hätte sie Andrea herbeigerufen, stürmte ihre einzige Mitarbeiterin in Liz’ Büro und hielt triumphierend einen Vertrag hoch. »Unterschrieben! Ohne zu handeln!« Liz vergaß für einen Moment Jos Anfrage und starrte Andrea an. Der Resthof direkt an der Ostsee war in jeder Hinsicht renovierungsbedürftig und dennoch hatte der Hamburger Besitzer einen siebenstelligen Betrag gefordert – und anscheinend bekommen. Damit hatte sie nicht gerechnet und deswegen Andrea den Besichtigungstermin überlassen. »Nicht im Ernst! Was hast du mit dem Kerl gemacht? Der ist doch nicht normal …« »Finde ich auch, aber wollen wir uns deswegen wirklich beschweren? Unsere Courtage kann sich ja sehen lassen.« Andrea runzelte die Stirn und hockte sich auf die Schreibtischkante. »Andererseits gebe ich dir recht. Mir war der Typ total unsympathisch und ich verstehe nicht, dass er nicht versucht hat, den Preis zu drücken. Es war so, als wäre der Hof sein größter Herzenswunsch überhaupt. Aber mal ehrlich, da musst du mindestens eine halbe Million reinstecken und selbst dann …« Sie hob die Arme und ließ sie wieder fallen. »Das Grundstück ist zwar absolut abgelegen, aber durch die umliegenden Felder wird es richtig laut, wenn Ernte oder Düngezeit ist.« Liz klappte ihr Notebook zu. »Egal, warum er den Hof gekauft hat. Wir gehen das jetzt feiern!« Sie tippte auf ihren Computer. »Außerdem kann ich dir da erklären, was gerade für ein Auftrag reingeschneit ist. Spätestens dann wirst du einen Drink brauchen …« Sie liefen durch die Fußgängerzone zu der schmalen Gasse hinter der Kirche. »Und hier ist Jan runtergefahren?«, überlegte Liz laut und betrachtete die ausgetretenen Treppenstufen, die zum Hafen führten. »Hör bloß auf«, erwiderte Andrea. »Aber da fällt mir noch was zu unserem Verkauf ein …« Eine ältere Dame kam ihnen entgegen und verhinderte, dass Andrea weitersprach. Sie grüßten freundlich und unterhielten sich kurz über das wechselhafte Wetter, ehe sie weitergingen. Außerhalb der Saison waren nur wenige Restaurants und Kneipen am Hafen geöffnet. Liz und Andrea hatten jedoch herausgefunden, dass eine gutbürgerliche Kneipe auch hervorragende Cocktails anbot. An die rustikale Einrichtung, die überwiegend aus maritimer Deko bestand, hatten sie sich inzwischen gewöhnt. Jan und Jörg waren ebenfalls öfter hier, weil sie die riesigen Schnitzel schätzten, die kaum auf den Teller passten. Andrea sah nachdenklich auf die Uhr. Liz erriet ihre Überlegung und winkte ab. »Bis wir nach Hause fahren, ist die Wirkung des Alkohols verflogen und wir müssen das unbedingt ordentlich feiern.« »Stimmt. Also das Übliche. Sonst soll Jörg uns eben abholen.« Liz zeigte ihr das Daumen-hoch-Zeichen. »Sehr gute Idee. Ich habe ganz vergessen, dass er seinen alten Urlaub nimmt.« Andrea bestellte zwei Aperol Spritz bei dem Kellner, der sie kannte. »Schalte bitte mal den Chefinmodus aus.« Liz nickte bereitwillig. »Erledigt.« »Gut. Denn du weißt, wie gerne ich mit dir und für dich arbeite. Es ist wirklich keine Beschwerde, aber trotzdem ein ziemlicher Albtraum, wenn der Mann Urlaub hat und die Frau nicht. Er langweilt sich …« Andrea seufzte übertrieben. Liz lachte und dachte an ihren eigenen Lebensgefährten. Felix hatte Leberkrebs, allerdings die Prognose seiner Ärzte schon um Jahre übertroffen. Dennoch war seine Gesundheit ein ständiges Wechselbad. Mal war er fit wie ein gesunder Mann, dann wieder müde und depressiv. »Ich verstehe dich so gut. Es gibt Tage, da schmollt Felix regelrecht, wenn ich ins Büro fahre. Dabei nimmst du mir ja nun wirklich viel ab und ich komme mir vor, als würde ich Teilzeit arbeiten. Genau deswegen will ich auch …« Sie verstummte, da ihre Getränke serviert wurden. Erst nachdem sie sich zugeprostet hatten, nahm Liz das Thema wieder auf. »So, dann arbeiten wir mal die Punkte ab, wegen der wir hier sitzen. Du machst weit mehr als eine reine Assistenz, der heutige Verkauf ist der beste Beweis dafür und deswegen hast du dir einen Bonus verdient. Die Courtage von dem Resthof bekommst du.« Sie hob warnend eine Hand, als Andrea nach Luft schnappte. »Diskutier gar nicht erst mit mir. Wann immer es Felix schlecht geht, springst du klaglos ein und schmeißt den Laden alleine.« »Das ist doch selbstverständlich. Außerdem sind wir …« Andrea schwieg sichtlich verlegen und traute sich offenbar nicht weiterzusprechen. Impulsiv griff Liz nach ihrer Hand. »Ganz genau. Wir sind nicht nur Kollegen, sondern ich betrachte dich auch als Freundin.« Andrea strahlte förmlich und Liz rief sich innerlich zur Ordnung. Sie sollte das wirklich öfter betonen, denn schließlich wusste sie, wie unsicher und verletzlich Andrea hinter ihrer toughen Fassade war. Ihr Mann Michael, der beste Freund von Jan, war in Afghanistan getötet worden. Als alleinerziehende Mutter eines Teenagers hatte sie es nicht leicht gehabt, sich unwissentlich auf unsaubere Geschäfte eingelassen und erst seit einigen Monaten in Brodersby ihr Leben wieder in den Griff bekommen. Dass sie mit Jörg sogar einen neuen Mann gefunden hatte, der sie und ihre Tochter glücklich machte, war sozusagen das Sahnehäubchen. Liz atmete tief durch. Wenn nicht jetzt, wann dann? »Gerade als Freundin möchte ich dir etwas sagen oder eher raten. Oder was auch immer. Eigentlich ist es eine Einmischung in dein Leben, aber ich finde, als Freundin darf ich das.« Sichtlich irritiert blinzelte Andrea und pustete sich eine braune Haarsträhne aus dem Gesicht. »Na, da bin ich ja mal gespannt …« Liz wurde einen Moment abgelenkt, weil Scheinwerfer am Fenster vorbeihuschten. Sie würde sich nie daran gewöhnen, wie früh es in den Wintermonaten dunkel wurde. Der Wagen, der ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, rangierte nun rückwärts. Für einen Moment erkannte Liz einen Mann, der an dem Restaurant vorbeiging, stehen blieb und sie durch das Fenster hindurch direkt anblickte. »Das glaube ich nicht«, sagte sie mehr zu sich selbst und stand auf. Sie wäre auch ohne Jacke nach draußen gegangen, um ihn zu begrüßen, doch da ging der Mann einfach auf den Wagen zu, als hätte er sie nicht bemerkt, was definitiv nicht der Fall war. »Das wird ja immer verrückter.« Sie zwängte sich am Tisch vorbei, um aus dem Fenster zu sehen. Für einen Augenblick erhaschte sie noch einen Blick auf den Mann, der in den Wagen einstieg. Im schwachen Schein der Innenbeleuchtung erkannte sie nun auch den Fahrer. Das war Paul Winkler, der merkwürdige Kerl, der den viel zu teuren Resthof gekauft hatte. Fassungslos starrte sie noch in die Dunkelheit, als der Wagen längst weg war. »Ich brauche was Stärkeres«, murmelte sie. Ihrem Stammkellner Bernie war ihre Erschütterung nicht verborgen geblieben. »Du bist ja ganz blass um die Nase. Ich bringe euch mal einen ordentlichen Schnaps aus unserem Geheimvorrat. Der geht aufs Haus.« »Danke«, japste Liz, kehrte zurück zu ihrem Platz und ließ sich schwer auf ihren Stuhl fallen. »Das glaubst du mir alles nicht«, wiederholte sie. »Lass mich das beurteilen, wenn ich weiß, worum es geht«, erwiderte Andrea besorgt. »Da draußen stand Walter, der Vater von Jan. Und der ist in den Wagen von deinem Kunden gestiegen. Paul Winkler.« Ausgerechnet in diesem Moment stand Bernie bereits wieder an ihrem Tisch und hatte Liz’ Erklärung mit angehört. »Der Fastgast im Trenchcoat ist der Vater von unserem Landarzt? Na, das ist ja mal ein Ding. Jemand namens Winkler hatte übrigens einen ruhigen Tisch für zwei Personen reserviert. Das hat sich wohl erledigt.« Liz wunderte sich eine Sekunde, dass Bernie von »unserem« Landarzt sprach, dann fiel ihr ein, dass er in Brodersby wohnte. Bernie stellte die beiden beschlagenen Gläser neben die Cocktails. »Das ist ein ganz feiner Obstbrand von Hinnark, den gibt’s nur für besondere Gäste.« Unaufgefordert setzte er sich an den Tisch. »Und nun erzähl mal. Was ist denn das mit Jan und seinem Vater?« Liz würde ganz bestimmt nicht Jans Lebensgeschichte ausbreiten, aber da auch Andrea sie neugierig ansah, kam sie um eine gewisse Erklärung nicht herum. »Sie haben seit Jahren keinen Kontakt mehr. Ich weiß nicht einmal, ob Walter überhaupt weiß, dass sein Sohn in der Nähe praktiziert.« Andrea hob ihr Glas. »Danke, Bernie. Auf die beste Kneipe in Kappeln. Und was diese vertrackte Vater-Sohn-Sache angeht, werden wir ja in den nächsten Tagen sehen, was da läuft. Ich dachte bis eben, dass Jans Eltern beide tot wären. Er hat nie über seinen alten Herrn gesprochen.« Und das aus gutem Grund, doch das behielt Liz lieber für sich. Sie hob ihr Glas ebenfalls und stürzte den Obstbrand herunter. Leider half ihr auch der köstliche Alkohol nicht, eine logische Verbindung zwischen Paul Winkler und Walter Storm herzustellen. Und diese Unwissenheit war nichts gegen das schlechte Gefühl, das sie plötzlich befiel. Da sie es nicht bei einem Cocktail belassen hatten, schlenderten Liz und Andrea gut eine Stunde später Richtung Klappbrücke, um sich dort von Jörg aufsammeln zu lassen. »Wolltest du nicht noch was wegen eines neuen Auftrags mit mir besprechen?«, erkundigte sich Andrea plötzlich. Liz musste erst überlegen, dann erinnerte sie sich an die E-Mail von Jo. »Stimmt. Das habe ich bei dem Durcheinander ganz vergessen.« Sie blieb stehen und sah auf die dunkle Wasseroberfläche der Schlei hinaus. Außer einem direkten Vorgehen fiel ihr nichts ein. »Du weißt ja, dass ich mich eigentlich nicht in dein Privatleben einmischen würde.« Das leise Schnauben von Andrea überhörte sie geflissentlich. »Also jedenfalls nicht mehr, als eine gute Freundin es eben tun muss. Warum zahlt ihr Miete für eine Wohnung, wenn ihr bei Jo und Helga viel mehr Platz für viel weniger Geld haben könntet?« Andrea atmete tief durch. »Na, das nenne ich mal ein Thema.« Sie schwieg einige Sekunden, und Liz befürchtete schon, dass sie zu weit gegangen war. »Ich mag Jo und Helga«, fuhr Andrea schließlich fort. »Und das Gebäude ist groß genug, um sich nicht zu sehr auf die Pelle zu rücken. Und es wäre schöner für Jörg, wenn er immer sofort vor Ort ist, wenn die beiden Hilfe gebrauchen könnten. Gerade weil Jörg ja ab und zu in Kiel schläft und seine Wohnung dort wegen seines Jobs nicht aufgeben kann. Dafür ist die Entfernung mit gut fünfzig Minuten Fahrtzeit einfach zu groß.« »Er hatte sich doch ein kleineres Apartment gesucht, oder?«, hakte Liz nach. »Ja, er meinte, dass drei Zimmer Schwachsinn seien, wenn er ja sonst mit mir und Ida zusammenlebt. Ihm reicht ein Zimmer, weil das für ihn eine reine Übernachtungsmöglichkeit und ein Aufbewahrungsplatz ist.« »Dann verstehe ich umso weniger, dass ihr nicht die Miete für die Wohnung in Brodersby spart.« »Es geht mir nicht um jetzt, sondern um später. Was ist, wenn wir uns dort richtig gut einleben und Jo und Helga passiert was? Wir haben einfach nicht genug Geld, um die Erben auszubezahlen und …« Liz konnte nicht anders, als laut loszulachen. Im Licht einer Laterne erkannte sie Andreas beleidigte Miene und beeilte sich, ihr den Heiterkeitsausbruch zu erklären. »Entschuldige bitte. Aber hast du mit Jörg mal darüber gesprochen?« »Na sicher. Also nicht direkt. Eher so indirekt.« Sie hob die Schultern. »Eigentlich nicht. Er geht auch davon aus, dass Jos leibliche Kinder den Hof erben. Deswegen habe ich den Punkt nicht weiterverfolgt. Nur so witzig finde ich das nicht!« »Ich schon!« Liz hielt Andrea ihr Smartphone hin, nachdem sie die E-Mail von Jo aufgerufen hatte. »Hier lies mal, was für einen Vertrag du morgen früh aufsetzen sollst.« Andrea reichten wenige Sekunden. »Na, das ist ja ein Ding!« »Jo«, bestätigte Liz auf typisch norddeutsche Art und brachte Andrea damit zum Lachen. »So ein Mist, dass wir schon Jörg angerufen haben, jetzt würde ich dir gerne noch einen Prosecco ausgeben! Ida wird vor Freude an die Decke hüpfen …« Andrea lächelte flüchtig. »Hoffe ich jedenfalls, denn damit wird der Weg zu ihrem geliebten Jonas einen Tick weiter. Teenager sind mit ihren Prioritäten ja manchmal unberechenbar.« »Den Prosecco holen wir morgen in der Mittagspause nach. Da vorne kommt dein Jörg schon.« Liz hatte sich geirrt. Nicht Jörgs Passat stoppte neben ihnen, sondern Jans Audi. Jörg ließ auf der Beifahrerseite das Fenster herunter. »Mögt ihr noch ein Glas trinken? Wir müssen noch rasch was im Polizeirevier erledigen.« Liz und Andrea prusteten gleichzeitig los. Jan und Jörg wechselten einen irritierten Blick. Beunruhigt durch Jans ernste Miene wurde Liz schnell wieder ernst. »Klar warten wir auf euch. Was ist denn passiert?« »Ein Todesfall in Schönhagen. Wir müssen nur schnell das Protokoll unterschreiben, weil wir vor Notarzt und Polizei bei dem Mann gewesen sind. Eigentlich hätte das Zeit bis morgen gehabt, aber weil ich euch ja abholen sollte, wollten wir das gleich mit erledigen.« Wieso musste Liz ausgerechnet jetzt an Paul Winkler und Jans Vater denken? Sie schüttelte den Kopf und nickte schnell, als Jan sie fragend ansah. »Fahrt ruhig los. Wir gehen zurück und trinken den Prosecco, den wir morgen trinken wollten.« »Gibt’s denn was zu feiern?«, erkundigte sich Jörg. Andrea strahlte ihn an. »Und ob. Einen überaus großzügigen Bonus und unseren bevorstehenden Umzug!« Liz merkte Jörg an, dass er kein Wort verstand, doch das konnten sie später klären. Im Moment musste sie erst einmal verhindern, dass Andrea aus Versehen das Auftauchen von Walter Storm ansprach. Ehe sie sich nicht sicher war, dass er den Kontakt zu Jan suchen würde, wollte sie nicht, dass ihr Patenkind von der Anwesenheit erfuhr. Er hatte in der Vergangenheit genug unter dem kalten Verhalten seines Vaters gelitten. *** Auf der Rückfahrt nach Brodersby schaffte Jan es, das Gespräch zwischen Andrea und Jörg auszublenden. Er freute sich mit den beiden, dass sie auf den Resthof ziehen und ihn irgendwann später übernehmen würden, doch da das geklärt war, beschäftigte ihn ein anderer Punkt viel mehr. Der Polizist in Kappeln hatte bereits eine Rückmeldung aus der Rechtsmedizin erhalten. Der Mann, ein vierundzwanzigjähriger Russe, war tatsächlich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit an einer Phosphorvergiftung gestorben. Wie konnte das sein? Und wer hatte ihn zum Sterben vor dem Feuerwehrhaus abgelegt? Es wäre logisch, wenn es eine Verbindung zu dem verletzten Mädchen gab, das Bernstein und Phosphor verwechselt hatte. Aber wie sollte die aussehen? Wenigstens lenkten ihn die offenen Fragen ein wenig von seiner Sorge um Lena ab. Erst nachdem er Jörg und Andrea bei Jo rausgelassen hatte, fiel ihm auf, dass seine Tante auffallend schweigsam war. So kannte er sie nicht – schon gar nicht, wenn sie mit einer Freundin den einen oder anderen Drink genommen hatte. »Geht’s dir nicht gut? Oder ist was mit Felix?«, erkundigte er sich besorgt, während er zu dem Haus fuhr, in dem sie mit ihrem Lebensgefährten wohnte. »Nee. Ich muss da nur über ein paar Dinge nachdenken, die nicht zusammenpassen. Dieser Resthof zwischen Brodersby und Damp hätte niemals für so viel Geld weggehen dürfen. Ich verstehe das nicht und glaube das erst, wenn der Notar den Vertrag mit seinem Siegel verziert hat.« »Aber ihr habt trotzdem schon gefeiert?« »Na klar, die Courtage ist fällig, da der Typ den Vorvertrag unterschrieben hat. Steht so eindeutig im Kleingedruckten.« »Wie wäre es, wenn du dich einfach freust, dass du jemanden gefunden hast, der dumm genug ist, so viel Geld auszugeben?« »Guter Vorschlag, der könnte fast von mir sein.« Jan stoppte vor dem Gebäude und schaltete den Motor aus. »Ich komme kurz mit rein. Ich will noch mit Felix reden.« »Über seine Chemo?« Die Sorge war seiner Tante anzumerken. Nachdem Felix zunächst als austherapiert gegolten hatte, würden seine aktuellen Werte eine erneute Behandlung rechtfertigen. Felix hatte sich bisher nicht überwinden können, eine entsprechende Therapie zu beginnen, und auch Jan war sich nicht sicher, ob dies ein sinnvoller Weg für seinen Freund war. »Nein. Da warte ich, bis er sich entschieden hat, und mische mich nicht ein. Jo hatte ihn gebeten, sich etwas anzusehen. Du weißt doch, wie viel Spaß ihm die Recherchen machen, wenn wir einer Sache auf der Spur sind.« Über das Wagendach hinweg sah seine Tante ihn an. »Und das seid ihr?« »Nicht so richtig, nur ein bisschen«, wiegelte er ab. »Und ich dachte, du wirst etwas ruhiger, wo du bald Vater wirst.« Obwohl sie nicht direkt vorwurfsvoll geklungen hatte, fühlte er sich angegriffen. »Wir machen doch überhaupt nichts. Jedenfalls nicht mehr, als jeder interessierte Bewohner von Brodersby unternehmen würde. Ich möchte es eben wissen, wenn plötzlich das Risiko besteht, dass regelmäßig Phosphor am Strand zu finden ist. Falls du dich erinnerst, unser Haus liegt direkt an der Ostsee. Möchtest du, dass unser Kind am Strand damit in Berührung kommt?« Jan fluchte innerlich, das hatte entschieden zu aggressiv geklungen. Wie hieß es noch? Wer sich verteidigte, klagte sich an … Verdammt. Jedes weitere Wort würde ihn nur tiefer reinreiten, sodass er sich einfach abwandte und zur Haustür ging. Felix öffnete ihm und Rambo, die kleine Promenadenmischung seines Freundes, sprang kläffend an ihm hoch. Erst nach einigen Krauleinheiten beruhigte sich der Hund. Felix sah ratlos zwischen Liz und Jan hin und her. »Habt ihr Stress?« »Ja«, sagte Liz, während Jan »Nein« antwortete. Über Felix’ verdutzte Miene musste Jan lachen und sein Ärger verflog. »Liz hat mich angemacht, weil wir angeblich schon wieder ermitteln – und das, obwohl Nachwuchs unterwegs ist.« Mit Felix hatte Jan offen darüber geredet, dass er sich fragte, ob er ein guter Vater wäre, sodass sein Freund sofort verstand, warum er so empfindlich reagierte. Felix winkte ab. »Das würde ja voraussetzen, dass es schon einen Anhaltspunkt für Ermittlungen geben würde, und der ist noch weit und breit nicht in Sicht. Nun setzt euch mal ins Wohnzimmer, dann halte ich euch einen kleinen Vortrag über Phosphor in der Ostsee.« Liz hob den Kopf höher. »Das interessiert mich nicht. Ich drehe eine Runde mit den Hunden, während ihr euch wieder in Dinge einmischt, die euch nichts angehen.« Dass Liz ihren weißen Pudelmischling Leila vom Kissen förmlich hochzerrte, verriet ihre Stimmung. Jan zog es vor abzuwarten, bis seine Tante und die Hunde verschwunden waren. Erst als die Haustür mit einem lauten Knall ins Schloss fiel, ließ er sich im Wohnzimmer in einen der gemütlichen Sessel sinken. »Wenn ich nicht noch fahren müsste, wäre ich reif für einen Whisky«, sagte er und stöhnte übertrieben laut. »Ach was, einer geht schon.« »Na gut, ein kleiner«, gab Jan nach. Felix schenkte ihm einen ordentlichen Schluck Talisker ein und blieb selbst bei seinem Kräutertee. »Wie geht es dir?«, erkundigte sich Jan vorsichtig, da sein Freund diese Nachfragen nicht besonders schätzte. »Ganz gut, wieder etwas müde. Ansonsten gibt’s keine Verbesserung, aber auch keine Verschlechterung.« Die sich anbietende Frage nach der Chemotherapie verkniff sich Jan und erntete ein dankbares Lächeln. »Danke, dass du nicht wegen der Chemo fragst. Die Antwort habe ich nämlich immer noch nicht.« »Ich kann mich da nur wiederholen: Höre auf dein Bauchgefühl!« »Mache ich. Und nun hörst du erst einmal zu. Es war ein Kinderspiel, an Informationen über Phosphor in der Ostsee zu kommen, weil es netterweise eine Website der Landesregierung gibt, auf der alle wesentlichen Informationen zusammengefasst sind. Und deshalb kann ich dir sagen, dass da was nicht stimmt. Bisher gab’s Funde in der Kieler Förde und oben bei Lütjenburg, immer nach einem ordentlichen Sturm. Die letzten Tage waren grau, aber windstill. Wie soll da der Mist gelöst und angespült werden? So funktioniert das nicht. Das ist mal sicher.« Seufzend nippte Jan an seinem Whisky. Genau das hatte er vermutet, hätte jedoch auf eine Bestätigung verzichten können. Felix sah ihn nachdenklich an. »Da ist ja noch der junge Mann. Jo hat mir alles erzählt. Wenn du mich fragst, war das einer der Taucher, die das Giftzeug bergen wollten. Dabei ist irgendetwas schiefgegangen, sodass er das Zeug eingeatmet hat. Und ein weiterer Teil hat sich gelöst und wurde angeschwemmt und …« Er breitete die Arme aus. »Keine Ahnung, warum jemand das tun sollte.« Fantasie hatte Felix jedenfalls. Auch wenn die Schlussfolgerung logisch war, ergab sie keinen Sinn. Was wollte man mit den alten Kampfmitteln? Allein die sachgerechte Lagerung würde ein Problem werden. »Du meinst, so’n bisschen was überlässt du Jörg und mir?«, fragte Jan grinsend nach. »Genau. Das ist die ideale Ablenkung für dich. Ich merke doch, dass du von Tag zu Tag nervöser wirst. Und deshalb noch mal ganz deutlich: Es gibt so viele Geburten in Deutschland! Statistisch passiert nichts. Und du wirst ein toller Vater sein. Denk nur daran, wie Ida dich vergöttert. Also hör auf, dir so viele Gedanken zu machen.« Jan verzichtete auf eine Erwiderung und prostete ihm stumm zu. Kapitel 4 Am nächsten Morgen war Jan mit seinen Überlegungen, wie das Boot, der Phosphor und der Tote zusammenhängen konnten, kein Stück weiter. Mit einem gefüllten Kaffeebecher in der Hand sah er auf die Ostsee hinaus, die in der Dämmerung durch den Nieselregen grau und wenig einladend wirkte. Lena schlief noch, sodass er in Ruhe nachdenken konnte. Leider fiel ihm nichts Vernünftiges ein. Es stand nicht einmal fest, dass der junge Russe ein Taucher gewesen war. Seine Vermutung, dass Sammler an alten Kampfmitteln interessiert sein konnten, hatte sich zerschlagen. Im Internet war er nirgends auf einen passenden Markt gestoßen. Für Waffen, Orden, Feldtagebücher und solche Dinge gab es eine große Nachfrage, aber er hatte keine Interessenten für Granaten oder Bomben gefunden. Per WhatsApp hatte er ihren Freund Markus König gefragt, ob ihm vielleicht ein passender Handel im Darknet bekannt war. Da dieser im Wirtschaftsdezernat des LKA bereits in den unterschiedlichsten Fällen ermittelt hatte, war ihm die Frage sinnvoll erschienen. Jan hatte jedoch einen lachenden Smiley als Antwort erhalten, der von der süffisanten Feststellung begleitet wurde, dass kein normaler Mensch mit funktionierendem Verstand dem instabilen Mist zu nahe kommen würde. Damit war die Theorie hinfällig, ehe Jan sie überhaupt zu Ende gedacht hatte. Gerda hatte ihn überredet, die Praxis im Winter erst ab halb zehn zu öffnen, sodass er noch Zeit hatte, ehe er losmusste. Jan stellte den Becher auf dem Wohnzimmertisch ab. Vielleicht kam ihm bei einer kleinen Joggingrunde die zündende Idee. Normalerweise lief er direkt am Haus los, heute entschied er sich, mit dem Wagen zur Steilküste zu fahren. Tarzan hob kurz den Kopf und ließ ihn dann so schnell wieder fallen, dass sich Jan Sorgen gemacht hätte, hätte er den Hund nicht so gut gekannt. Obwohl er manchmal überraschend beweglich war, zog Tarzan ein faules Hundeleben vor und ein Spaziergang bei dem nassen Wetter um diese Uhrzeit gehörte nicht zu seinen Vorlieben. Als Jan seinen Audi auf der Sandfläche stoppte, hätte es eigentlich schon heller sein sollen, doch die Nacht hatte sich ohne Übergang in ein dunkles Grau verwandelt. Großartig. Jan hasste dieses Wetter. Nicht nur seine eigene Stimmung litt unter dem fehlenden Sonnenlicht, sondern es kamen auch überdurchschnittlich viele Patienten mit einer ausgewachsenen oder beginnenden Depression in seine Praxis. Er musste sich regelrecht überwinden, den warmen Wagen zu verlassen. Was hätte dagegen gesprochen, es sich mit einem weiteren Kaffee und seinem Smartphone im Wohnzimmer gemütlich zu machen? Nun war es zu spät. Nachdem er die kläglichen Reste seines Pflichtbewusstseins zusammengekratzt hatte, stieg er aus. Der Nieselregen, der ihm sofort ins Gesicht wehte, vertrieb seine Müdigkeit. Am besten, er brachte schnell ein paar Kilometer hinter sich und fuhr dann zurück. Da er ungern im tiefen Sand lief, joggte er direkt an der Wasserlinie entlang, wo der Boden deutlich härter war, behielt dabei allerdings die Wellen im Auge. Auf nasse Schuhe konnte er bei den Temperaturen verzichten. Entgegen seiner Erwartung änderte sich seine Laune bereits nach wenigen Metern. Direkt an der Ostsee war es etwas heller. Möwen flogen kreischend über die Wasseroberfläche und stießen ab und zu auf der Jagd nach einem Fisch herab. Er kam an einem Baumstamm vorbei, der ihn sofort an die Zeit erinnerte, als Jörg unter Mordverdacht gestanden hatte. Der Fall war wesentlich komplizierter gewesen und sie hatten ihn aufgeklärt. Warum sollte es ihnen jetzt nicht wieder gelingen? Im zurücklaufenden Wasser vor ihm glitzerte etwas. Jan blieb stehen und wartete einen günstigen Moment ab. Knapp vor der nächsten Welle schnellte er vor und erwischte den Stein, der nicht größer war als ein Zwei-Cent-Stück. Misstrauisch drehte er ihn in der Hand. Normalerweise hätte er sich über den Bernstein gefreut und vor allem auf Lenas Begeisterung, wenn er ihr den kleinen Stein schenken würde. Nach der gestrigen Erfahrung überprüfte er sorgfältig, dass es sich tatsächlich um ein Mineral und nicht um giftigen Phosphor handelte. Da ihm weder die Farbe noch die Konsistenz völlige Sicherheit gaben, rieb er den inzwischen trockenen Stein an seiner Jacke und atmete auf, als ein Haar daran kleben blieb. Im Gegensatz zum gefährlichen Phosphor ließ sich Bernstein elektrisch aufladen. Zu spät fragte er sich, ob die Reibung auch genug Wärme für eine Selbstentzündung erzeugt hätte. Jans Puls beschleunigte sich nachträglich. Er verstaute den Fund in der Tasche seines Windbreakers und setzte seinen Weg fort. Der glänzende Stein erinnerte ihn an Schaima, eine etwas sonderliche Heilerin, die in der Nähe von Brodersby wohnte und praktizierte. Sie liebte Steine aller Art und würde vermutlich von einem Zeichen sprechen. Dagegen hatte er nichts. Im Gegenteil. Jan beschloss, den Fund als Glücksbringer bei der Klärung der Hintergründe des angeschwemmten Phosphors zu betrachten. Obwohl er nach weiteren Bernsteinen – oder Phosphorbrocken – Ausschau hielt, wurde er nicht fündig. Dennoch war er in deutlich besserer Stimmung, als er schließlich umkehrte. Allmählich klarte das Wetter auf. Die dunklen Wolkenberge nahmen Konturen an und er konnte bereits hellere Bereiche entdecken. Als der Parkplatz in Sicht war, beschleunigte er das Tempo. Den einsamen Spaziergänger in Höhe des Baumstamms beachtete er nicht weiter. Erst als er näher kam, stutzte er. Die Gestalt des Mannes hatte etwas Vertrautes, aber das war nicht möglich. Wenige Meter später korrigierte er sich. Es war möglich! Seine Laune erreichte schlagartig einen neuen Tiefpunkt. Das durfte doch nicht wahr sein! Der Mann hatte ihn offensichtlich ebenfalls erkannt, denn sonst würde er kaum so wirken, als würde er am liebsten fliehen. Nach so vielen Jahren trafen sie sich ausgerechnet hier an der Steilküste? Jan blieb einige Meter vor seinem Vater stehen und wusste nicht, was er sagen sollte. Mit einem zufälligen Treffen hätte er niemals gerechnet. Eigentlich hatte er seit Ewigkeiten überhaupt nicht mehr daran gedacht, dass sie sich jemals wieder über den Weg laufen würden. »Das ist eine Überraschung«, meinte Jan schließlich, als das Schweigen kein Ende nahm. »Ist der Ort nicht ziemlich weit von Eckernförde entfernt?«, erkundigte sich sein Vater und verzichtete ebenfalls auf eine Begrüßung. »Wieso Eckernförde?«, hakte Jan ratlos nach. »Trainiert da nicht das KSK?« Sein Vater wusste nicht, dass er die Bundeswehr verlassen hatte, aber dafür, dass er eine Zeit lang bei der Spezialeinheit im Einsatz gewesen war. Wie passte das zusammen? Ihr Kontakt war abgebrochen, nachdem er das Medizinstudium an der Bundeswehruni begonnen hatte, und außer Liz wusste niemand, dass er zum Kommando Spezialkräfte gehört hatte. »Ich habe in Brodersby eine Arztpraxis«, erwiderte Jan und schenkte sich jede weitere Erklärung. Einen Moment schien sein Vater fassungslos zu sein, dann schüttelte er den Kopf. »Merkwürdiger Zufall«, murmelte er leise. »Finde ich auch. Machst du Urlaub in Schwansen?« »Nein, ich bin geschäftlich hier. Und ich frage mich gerade, ob … Na egal. War nett, dich getroffen zu haben.« Ohne ein weiteres Wort wandte sich sein Vater ab und steuerte auf den Parkplatz zu. Jan sah ihm erst nach, dann aufs Meer hinaus. Normalerweise wäre er zum Parkplatz gegangen, aber nun wartete er lieber, bis sein Vater weggefahren war. So wenige belanglose Worte, nachdem man sich über fünfzehn Jahre nicht gesehen hatte? Wenn er jemals ein solches Nichtverhältnis zu seinem Kind haben sollte, dann würde er … Keine Ahnung … Nicht einmal in Gedanken brachte er den Satz zu Ende. Während zwei Möwen im Tiefflug über die Ostsee jagten, schwor er sich, seinem Kind jede Freiheit bei der Berufswahl zu lassen, die überhaupt möglich war. Wenn sein Sohn Balletttänzer werden wollte, würde er ihn genauso unterstützen wie seine Tochter beim Auswahlverfahren der NASA. Hauptsache, sein Kind war glücklich. Alles andere interessierte ihn nicht. Er würde ihr Verhältnis nicht mit Ansprüchen oder Forderungen in Bezug auf die Berufswahl vergiften. Kaum wurde ihm bewusst, was er sich gerade vornahm, da fiel ein Teil der Angst vor seiner zukünftigen Rolle von ihm ab. Er würde niemals die Fehler wiederholen, die sein Vater gemacht hatte. Das war sicher. Vermutlich würde er vieles falsch machen, aber nicht so viel wie der Mann, der heute wie ein Fremder für ihn war. Rein äußerlich hatte sich Walter Storm nicht verändert. Das graue Haar, die blauen Augen, die deutlich heller als Jans waren, die relativ schlanke Gestalt, wie Jan es in Erinnerung hatte. Sein Vater schien weiter auf sein Gewicht zu achten, dennoch hatte er um die Taille etwas zugelegt. Auch die Falten um die Augen herum waren deutlich tiefer geworden. Jan schnaubte, als er bemerkte, dass er die Begegnung auf eine Beurteilung des Äußeren reduzierte. Nach einem Blick auf seine Uhr kalkulierte er die Zeit, die er zum Duschen und für einen Kaffee mit Lena brauchte. Das müsste noch machbar sein. Eigentlich hatte er vorgehabt, sich in der Wohnung über seiner Praxis umzuziehen und dort zu duschen, aber er wollte seine Frau sehen. Jetzt! Obwohl er es nicht gerne zugab, erschütterte ihn das unpersönliche Treffen. Anscheinend hörte man nie auf, Kind zu sein und sich nach der Liebe und Anerkennung seiner Eltern zu sehnen. Da er es die letzten Jahre mühelos ohne seinen Vater ausgehalten hatte, würde es kein Problem sein, so weiterzumachen. Sichtlich erstaunt kam Lena ihm im Flur entgegen. »Hey, ich freue mich ja, dich zu treffen, aber wolltest du nicht schon in der Praxis sein?« Jan brummte eine Zustimmung und zog sie in seine Arme. »Wollte ich.« Sie schob ihn etwas von sich weg und musterte ihn misstrauisch. »Was ist passiert?« Er verzog den Mund zu einem vermutlich reichlich missglückten Lächeln. »Wie kommst du darauf, dass etwas passiert sein könnte?« »Vielleicht weil ich dich kenne? Weil es dir auf die Stirn geschrieben steht – allerdings nur für deine einzigartige, dich über alles liebende Ehefrau lesbar! Geh duschen, ich mache dir ein schnelles Frühstück und einen Kaffee und sage Gerda, dass du einen Tick später da sein wirst.« Genau das hatte er gebraucht. Ihm fiel das Lächeln schon leichter, als er sie küsste und ins Badezimmer eilte. Bei einem Kaffee und Rührei, das Lena blitzschnell gebraten hatte, erzählte er ihr von der unerwarteten Begegnung. Lena vergaß ihre Portion und starrte ihn an. »Das ist ja der Hammer. Sag mal, von eurem merkwürdigen Verhältnis, das ganz bestimmt nicht du zu verantworten hast, mal abgesehen: Was macht dein Vater ausgerechnet an der Steilküste? Ein touristisches Highlight ist das ja nicht gerade.« Er zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, die Frage ist berechtigt. Meinetwegen ist er jedenfalls nicht hier. Er wusste nicht einmal, dass ich in der Nähe wohne.« Lenas Augenbraue wanderte in Zeitlupe nach oben. »Entschuldige, dass ich das so direkt sage, aber besser keinen Opa als einen solchen Döschkopp! Da ist unser Sohn mit Jo und Helga als Ersatzgroßeltern viel besser dran.« Jan schob sich den Rest Rührei in den Mund. »Erstens können wir immer noch eine Tochter bekommen und zweitens solltest du dich warm anziehen, wenn du Jo und Helga als ›Oma‹ und ›Opa‹ bezeichnest.« Lena lachte und schob ihr restliches Rührei auf seinen Teller. »Nimm du, ich bin satt. Das ist so herrlich mit den beiden. Da haben sie so lange vergeblich darauf gewartet, dass sie Enkel kriegen, adoptieren in gewisser Weise vor der Geburt unser Kind, gucken aber wie eine Kuh, wenn’s donnert, wenn sie das Wort Oma oder Opa hören. Herrlich! Dabei haben sie mit über siebzig das richtige Alter dafür.« »Kennst du die Geschichte, als sich Jo ein Bahnticket kaufen wollte und ihm gesagt wurde, dass es Sparmöglichkeiten für Senioren gibt?« Prustend nickte Lena. »Er und Helga sind dann mit dem Wagen nach Hannover gefahren – so wie er es von Anfang an wollte.« Jan grinste breit. »Ganz genau. Und zum Glück hat sich Helga nie gefragt, warum er die Tickets nicht einfach online gekauft hat. Ich wette, er hat geahnt, dass so etwas passieren würde.« Lena sah ihn spöttisch an und ihm dämmerte die Wahrheit. »Du meinst, sie weiß genau, was er da abgezogen hat?« »Na logisch. Jeder kennt doch die Angebote der Bahn für die Generation sechzig plus, aber weil sie ihn liebt, hat sie ihm die Albernheit durchgehen lassen. Und nun sieh zu, dass du in die Praxis fährst. Du bist verdammt spät dran und Gerda klang, als ob sie was auf dem Herzen hätte.« »Nicht auch das noch.« Jan stöhnte. Er stand auf, um den Tisch abzuräumen, und musterte dann Lena besorgt. Wenn er sich nicht sehr irrte, war sie gerade vor Schmerzen zusammengezuckt. »Alles in Ordnung?« Sie atmete einmal tief durch. »Ja sicher. Es wäre nur nett, wenn dein Sohn das Karatetraining auf die Zeit außerhalb des Bauchs verschieben könnte. Der hat vielleicht ein paar Tritte drauf. Komm her und teste selbst.« Dafür ließ Jan das benutzte Geschirr sofort stehen. Sanft legte er eine Hand auf Lenas Bauch und bekam tatsächlich sofort einen ordentlichen Tritt ab. Egal, wie oft er die Bewegungen ihres Kindes schon gespürt hatte, an dieses Wunder würde er sich nie gewöhnen. Das war wichtiger als sein Vater und sämtliche Phosphorfunde! »Also ich meine, dass unsere Tochter gerade Ballett übt«, zog er Lena auf, die ihn prompt anfunkelte. »Schaima hat mir gesagt, dass man keinen Ultraschall braucht, wenn man auf seine innere Stimme hört. Unser Winzling ist ein Sohn. Punkt!« »Und wenn’s eine Tochter ist, schickst du sie zurück?«, hakte er nach. Schmunzelnd nickte Lena. »Aber so was von!« Sie lachten und küssten sich zärtlich. Nun war Jan so weit, rasch aufzuräumen und in die Praxis zu fahren. Jan konnte gerade noch seine Jacke aufhängen, da stürmte Gerda wie eine Rachegöttin aus der kleinen Pantry auf ihn zu. »Ausgerechnet heute kommst du in letzter Sekunde! Wir müssen reden. Da stimmt was nicht.« Ehe er auch nur eine Frage formuliert hatte, war sie schon wieder weg. Großartig. Er fuhr den PC hoch und warf einen Blick auf die heutigen Termine. Sofern es keinen Notfall gab, wartete nichts Dramatisches auf ihn. Mit einem aufgebrachten Schnauben stellte Gerda ihm im Vorbeigehen einen gefüllten Kaffeebecher auf den Schreibtisch und verzog sich grummelnd an ihren Tresen. Nachdem Jan ein Kleinkind geimpft und einen erkälteten Patienten versorgt hatte, kam Gerda in sein Sprechzimmer. »Da du so schnell warst, haben wir ein paar Minuten.« »Und die nutzt du, um mir zu verraten, was du vorhin gemeint hast?« »Natürlich! Ich war heute Morgen ganz früh bei Erna, um Brötchen zu holen, damit … Ist ja auch egal. Jedenfalls war ich bei Erna.« »Vermutlich wolltest du jemandem das Frühstück machen oder was für die Pausen mit zur Schule geben«, unterbrach Jan sie. Bei der Anspielung auf Conrad Heckmann, mit dem Gerda seit einiger Zeit liiert war, röteten sich die Wangen seiner Arzthelferin. »Das geht dich gar nichts an, Chef! Mich interessiert vielmehr, ob du mit jemandem Ärger hattest?« Jan überlegte kurz und schüttelte den Kopf. »Nö. Da fällt mir keiner ein. Warum fragst du?« »Weil sich erst jemand nach dir erkundigt und dann so’n paar ganz schön böse Bemerkungen fallen gelassen hat. Noch nichts wirklich Schlimmes, aber ich sage bei solchen Dingen immer ›Wehret den Anfängen‹! Conrad meint, dass man jedes Anzeichen von Mobbing sofort im Keim ersticken muss, ehe es ausufert.« »Du meinst, dass mich jemand mobben will?«, hakte Jan nach. »Mensch, Jan! Es geht hier nicht ums Mobben, das war nur ein Vergleich, du Dösbaddel. Irgendjemand hat erst rumgefragt und wollte alles Mögliche über dich wissen und schwupps gibt’s da jetzt unschöne Gerüchte. Von wegen, du hast den Wagen und das Haus viel zu billig bekommen und die Verkäufer übern Tisch gezogen.« Jan zuckte zusammen und erntete einen genervten Blick von Gerda. »Ich wusste, dass du dir diesen Schuh sofort anziehst. So ein Blödsinn! Niemand hätte der alten Müllerin das Haus in der Lage abgekauft und stehen gelassen. Ihr seid bereit gewesen, das Haus im Urzustand zu erhalten und nur vorsichtig zu sanieren. Ihr ladet sie regelmäßig zum Kaffee ein und holt sie dafür sogar ab. Und so wenig habt ihr ja nun auch nicht bezahlt, wenn man mal bedenkt, was ihr da alles neu machen musstet und immer noch vorhabt. Und Richie ist an deinem Wagen ja auch nicht pleitegegangen, sondern du hast den Preis sogar ordentlich nach oben getrieben. Also denk nicht mal so einen Mist! Jeder, der dich oder Richie oder die Müllerin kennt, weiß das. Aber so’n paar Neidhammel springen natürlich auf den Zug auf und das gefällt mir gar nicht.« Himmel, hatte sich Gerda in Rage geredet. Leider hatte sie ihn damit ein wenig angesteckt. So groß war das Einzugsgebiet seiner Praxis nicht und wenn plötzlich die Patienten wegblieben, hatte er zwar nicht sofort ein Problem, aber irgendwann schon. Er ermahnte sich, es nicht zu übertreiben. So weit war es schließlich noch lange nicht. Trotzdem war er alarmiert, denn der Dorfklatsch hatte es in sich. Er hatte das große Glück gehabt, dass die Gemeinschaft ihn fast sofort aufgenommen hatte, dennoch konnte sich das Blatt schnell zu seinen Ungunsten wenden. »Zurück zu deiner Ausgangsfrage: Ich hatte mit niemandem Streit. Mir fällt nicht einmal eine Meinungsverschiedenheit ein. Vielleicht steckt da nur ein bisschen Neid hinter und das vergeht wieder.« »Das mag ja sein, aber meinst du nicht, dass da ein Zusammenhang besteht?« »Du denkst an denjenigen, der Fragen über mich gestellt hat?« »Na sicher.« »Dann kann es ja niemand aus Brodersby oder Umgebung sein, denn diejenigen wissen alles, was es zu wissen gibt.« »Guter Punkt, Jan«, lobte sie ihn. »Da müssen Erna und ich noch mal genau drüber nachdenken. Und vielleicht Conrad einschalten. Wir kommen dem Gerüchteklopper schon auf die Spur. Verlass dich drauf.« Nicht zum ersten Mal, seitdem er in Brodersby seine Praxis eröffnet hatte, musste er an Miss Marple denken. Vermutlich wäre Gerda bei dem Vergleich tödlich beleidigt. Da sie manchmal den Eindruck erweckte, Gedanken lesen zu können, dachte Jan lieber nicht weiter über Parallelen zwischen seiner patenten Helferin und der Hobbydetektivin aus den Agatha-Christie-Krimis nach. Misstrauisch musterte Gerda ihn. »Möchte ich wissen, was du gerade denkst?« »Definitiv nicht«, gab Jan zurück. »Schick bitte den nächsten Patienten rein«, bat er sie, um jede weitere Diskussion abzuwürgen. Erst als der Mann in den Fünfzigern ihm detailliert von seinen Schmerzen im Oberschenkel erzählte, gelang es Jan, die Befürchtungen von Gerda zu verdrängen. Dennoch behielt er die Frage im Hinterkopf, ob die Gerüchte und der Phosphor irgendwie zusammenhängen konnten. Und vielleicht sogar das unerwartete Auftauchen seines Vaters. Doch egal, wie er es drehte, er fand keine Verbindung. Kapitel 5 Als sich die Tür hinter dem letzten Patienten des Vormittags schloss, atmete Jan auf. Eine ruhige Mittagspause lag vor ihm – oder fast ruhig, denn Jörg hatte angekündigt vorbeizukommen. Das passte perfekt. Jan hatte nichts vor, Gerda wollte schnell bei sich zu Hause vorbeisehen und im Tiefkühlschrank in der Pantry befand sich seine Lieblingspizza. Damit konnten sie in Ruhe essen und reden. Kaum hatte sich Gerda verabschiedet, stürmte Jörg in die Praxis. »Vergiss die Pizza, ich habe uns was vom Zeus geholt.« Er hielt eine Tüte hoch und zog eine kleine Flasche aus der Jackentasche. »Inklusive Ouzo. Wenn du nichts davon willst, schaffe ich ihn auch alleine.« »Tolle Einstellung, Herr Oberkommissar. Apropos, wie sieht’s eigentlich mit deiner fälligen Beförderung aus?« »Spinnst du? Dafür bin ich noch viel zu jung«, gab Jörg zurück und platzierte das Essen auf Jans Schreibtisch. »Bleiben wir unten oder wollen wir nach oben?« In seiner Wohnung hätten sie es zwar bequemer, aber Jan war zu faul, um den Platz zu wechseln. »Lass uns hierbleiben. Ich reiße nach dem Essen die Fenster auf, um den Knoblauchgeruch zu vertreiben.« »Gute Idee, der Weg ist entschieden zu weit. Und erst die Treppe …«, stimmte Jörg zu. Jan sah seinen Freund betont ernst an. »Wenn du weiter so faul bist, hängen deine Jungs dich im Training ab oder haben sie das schon?« Jörg stutzte und lachte dann. »Sehr witzig.« Erst als sie die Styroporboxen komplett geleert hatten, wandte sich ihr Gespräch ernsteren Themen zu. Jörg lehnte sich auf dem Stuhl zurück. »Die Typen vom Kampfmittelräumdienst sind die Steilküste abgegangen und haben ein paar Metallreste gefunden, die ihnen nicht gefielen, allerdings keinen weiteren Phosphor. Warntafeln werden da jetzt trotzdem aufgestellt.« »Waren die heute Vormittag da? Heute Morgen habe ich da niemanden gesehen. Na ja, fast niemanden. Du errätst nie, wem ich übern Weg gelaufen bin.« Die Art und Weise, wie Jörg seinem Blick auswich, gefiel Jan nicht. »Die sind erst gegen zehn aus Kiel gekommen. Und sag mir nicht, dass du deinen Vater ausgerechnet an der Steilküste getroffen hast! Was wollte der denn da?« Verblüfft stellte Jan sein Wasserglas zurück, ohne getrunken zu haben. »Woher weißt du, dass mein Vater in der Gegend ist?« »Andrea und Liz haben ihn gestern in Kappeln getroffen. Also Liz, sie hat Andrea gesagt, wer der Mann war, der vor ihr geflüchtet ist.« Damit hatte sein Freund ihn komplett abgehängt. »Geflüchtet? Und wieso erzählt Liz mir das nicht? Und was wollte er an der Steilküste?« »Keine Ahnung, als Antwort auf jede deiner Fragen. Eine davon habe ich dir übrigens schon gestellt. Gibt es irgendeine logische Verbindung zwischen Phosphor und deinem Vater?« »Sie sind beide Gift für die Umwelt«, entfuhr es Jan. »Nein, keine, die einen Sinn ergeben würde.« Da Jan ihm bei einem ihrer Treffen von dem gestörten Verhältnis zu seinem Vater erzählt hatte, wunderte es ihn nicht, dass Jörg nicht weiter nachfragte, sondern seufzte. »Langsam wird es unübersichtlich«, stellte sein Freund fest und kratzte sich am Kopf. »Na ja, einfach kann ja jeder. Hast du mal ein wenig wegen des Bootes oder der Munition generell nachgeforscht?« »Ja, kannst du alles vergessen. Das Boot kann überall liegen und dass solche Funde hier ungewöhnlich sind, gerade bei dieser Wetterlage, wussten wir. Einen Markt für solchen Kram gibt es nicht. Jedenfalls habe ich keinen gefunden und Markus hätte mir fast den Kopf abgerissen, als ich ihn danach gefragt habe.« Jans Unschuldsmiene saß wohl nicht besonders gut, denn Jörg stutzte und seufzte erneut. »Lass mich raten: Du hast ihn auch schon gefragt.« Jan nickte schmunzelnd. »Was kann ich dafür, wenn du zu spät auf die Idee kommst? Aber mir ist gerade etwas eingefallen. Du könntest bei den Kampfmittelräumern nachfragen, ob theoretisch die Möglichkeit besteht, aus geborgenen Granaten oder Bomben Waffen herzustellen, die man heute noch verwenden kann.« Jörgs selbstzufriedene Miene warnte ihn, dass dieses Mal er zu spät dran war. »Schon erledigt. Ich bin extra mit Ginger an die Steilküste, weil ich mit den Jungs reden wollte. Und ich hatte Glück, Julian war dabei. Der kennt sich mit dem Kram ganz gut aus und wird gerne als Unterstützung angefordert. Leider änderte das nichts an der Antwort. Julian meinte, dass das unmöglich sei. Das, was man da hochholen könnte, sei viel zu instabil. Das mit dem Boot klang für ihn zwar nach einem merkwürdigen Zufall, aber einen Zusammenhang sieht er nicht. Damit können wir unsere schöne Theorie vergessen.« Julian arbeitete fürs LKA als Spezialist für Brände und Sprengstoffe, sodass es Jan nicht weiter überraschte, dass er hinzugezogen worden war, doch die Antwort gefiel ihm nicht. Leider sagte ihm alles, was er über Sprengstoffe wusste, dass der Kieler Experte mit seiner Aussage richtiglag. Jan überlegte kurz. »Die Theorie lautet also trotzdem weiterhin, dass die vom Boot aus einem unbekannten Grund dabei waren, so einen Mist zu bergen, um das Zeug zu verkaufen. Dabei ist was schiefgegangen und der Russe vergiftet worden.« »Ganz genau. Ohne den toten Russen würde ich sagen, dass du spinnst. Da der nicht wegzudiskutieren ist, stimme ich dir zu«, gab Jörg ihm recht. Jan schüttelte den Kopf. »Die Theorie ist gut, aber ich weiß nicht, wie wir da weitermachen können.« Jörg verzog den Mund. »Ich auch nicht. Schöner Mist. Ich hatte gehofft, dass du ein Kaninchen aus dem Hut zauberst.« »Ich? Wer ist denn hier der Bulle?« Jörg winkte lässig ab. »Wer hat sich denn als scheinbar seriöser Landarzt einen Ruf wie eine Mischung aus James Bond und Terminator aufgebaut? Du enttäuschst mich!« Sie lachten gleichzeitig los, dann zielte Jan mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf Jörg. »Über den Terminator reden wir noch!« Unbeeindruckt sammelte Jörg die leeren Verpackungen ein und stopfte sie in eine Plastiktüte. »Gut, dass Andrea und Ida nicht hier sind. Die hätten mir wieder Vorträge über Müllberge gehalten.« »So ganz unrecht haben sie nicht, aber solange Dimitri sein Essen nicht auf unsere Tische beamen kann, fällt mir nichts ein, um das zu vermeiden.« »Stimmt und …«, begann Jörg und verstummte. »Die Praxis ist doch noch geschlossen? Da kommt jemand.« Diesmal seufzte Jan und drehte sich zum Fenster um. Den Mann, der auf die Eingangstür zueilte, erkannte er erst auf den zweiten Blick. Paul Winkler. Ein ehemaliger Kamerad aus seiner Bundeswehrzeit, aber keiner der Männer, die er besonders geschätzt hatte. »Mist«, kommentierte er den unerwarteten Besucher. »Der gehörte mal für ganz kurze Zeit zu meinem Team und hat zum Glück gewechselt, ehe ich ihn rausschmeißen musste. Was will der denn hier?« »Phosphor, dein Vater, ein ehemaliger unsympathischer Kamerad …«, überlegte Jörg laut. »Vielleicht sehe ich Zusammenhänge, wo keine sind, aber irgendwie …« »Nicht nur das. Gerda hat mir von bösen Gerüchten über mich erzählt und einem Unbekannten, der viele Fragen gestellt hat.« Jan seufzte erneut, als es klingelte. »Wie gut, dass er nicht weiß, dass das Schloss nur eingeschnappt ist«, zog Jörg ihn auf, während Jan zur Tür ging, um den unerwarteten und ungeliebten Besucher zu begrüßen. Paul einfach draußen stehen zu lassen, brachte er nicht fertig. Leider. »Moin, Paul, das ist ja eine Überraschung. Willst du reinkommen? Ein paar Minuten habe ich noch.« Er zwang sich zu einem freundlichen Gesichtsausdruck, um zu überspielen, dass er Einladung und Rausschmiss verband. »Gerne. Ich war vielleicht überrascht, als ich gehört habe, dass wir quasi Nachbarn werden.« Nachbarn? Die freundliche Miene drohte Jan zu entgleiten. Damit hatte er nicht gerechnet. »Na, dann bin ich mal gespannt. Dich hätte ich in dieser abgelegenen, ruhigen Gegend nicht gerade vermutet.« Er führte ihn ins Sprechzimmer und deutete auf Jörg. »Jörg Hansen, ein Freund von mir. Das ist Paul Winkler, wir kennen uns aus meiner Bundeswehrzeit.« Die Männer nickten einander zu und taxierten sich gegenseitig. »Kaffee?«, bot Jan an. Beide nickten. Ehe Jan in die Pantry gehen konnte, war Jörg bereits dorthin unterwegs. »Ich übernehme das.« »Na, dann erzähl mal. Wo wohnst du denn?«, begann Jan das Gespräch und zumindest diese Antwort interessierte ihn wirklich. Er deutete einladend auf einen der Stühle vor seinem Schreibtisch. Paul setzte sich, ohne seine Jacke auszuziehen. »Im Moment wohne ich in Kappeln in einem Hotel, aber ich habe vorhin den Kaufvertrag für ein Anwesen zwischen Damp und Brodersby unterschrieben. Das war zwar ein bisschen teurer, doch die direkte Lage an der Ostsee war es mir wert.« Anwesen … Der Ausdruck passte zu Pauls Markenklamotten. Schon früher hatte er viel Wert auf Statussymbole wie teure Uhren, Sonnenbrillen oder Kugelschreiber gelegt. »Direkt am Meer gibt es nur noch wenige Objekte, da hattest du Glück.« »Du ja offenbar auch«, gab Paul zurück. »Stimmt«, erwiderte Jan bewusst neutral, obwohl er sofort an die Gerüchte über ihn dachte. »Was machst du denn jetzt so? Was ich mache, siehst du ja.« »Tja, dass du mal als Landarzt endest, hätte ich nicht gedacht, Herr Major.« Jörg kehrte mit drei gefüllten Bechern zurück und stellte sie auf dem Schreibtisch ab. Die Unterbrechung konnte Jan gut gebrauchen, die unterschwellige Arroganz in Pauls Worten war ihm nicht entgangen. Vermutlich hatte Jörg den wenig netten Kommentar mitbekommen. Sein Freund hatte viele gute Eigenschaften, doch trotz seiner Erfahrung als verdeckter Ermittler gelang es ihm im privaten Bereich nicht, seine Gefühle zu verbergen. Ihm stand der Ärger förmlich auf die Stirn geschrieben. »Na, dann hoffe ich mal, dass Sie eine interessantere Tätigkeit gefunden haben«, sagte Jörg. Auch die Benutzung der formellen Anrede verriet Jan einiges. »Nenn mich ruhig Paul. Förmlichkeiten sind doch unter Freunden von Freunden überflüssig«, sagte Paul prompt. »Ihr werdet lachen, ich habe tatsächlich eine echte Nische entdeckt, die ordentlichen Gewinn verspricht. Was mir allerdings fehlt, ist ein Draht zu den Einheimischen. Was ist zum Beispiel mit dem Werkstattbesitzer? Kennt ihr den und könntet mir einen Kontakt zu ihm vermitteln?« »Was genau hast du denn vor?«, fragte Jan sofort nach. Abwehrend hob Paul eine Hand. »Sorry, Geschäftsgeheimnis. Aber wenn ihr mich in diese ganzen Kreise beim Zeus und rund um diesen Kiosk einführt, denke ich über eine Beteiligung nach. So’n bisschen Extraeinkommen schadet doch nie!« Als Jörg den Mund öffnete, ahnte Jan, dass sein Freund das Angebot harsch ablehnen würde. Da er neugierig war, was Paul vorhatte, wollte er diplomatischer vorgehen. »Darüber sollten wir mal mit mehr Details reden. Wenn du Kontakt zu den Brodersbyern suchst, kann ich dir als Zugezogener nicht richtig helfen. Da bist du besser dran, wenn du es im Zeus bei Dimitri oder im Kiosk bei Erna versuchst. Mir fehlen da leider die richtigen Verbindungen.« Schon früher war Jan aufgefallen, dass Pauls blaue Augen bei Ärger oder Wut plötzlich dunkler wirkten. Nun war es wieder so weit. Er trank einen Schluck Kaffee und stand auf. »Tja, dann habe ich da wohl was Falsches gehört. Ich dachte, du kennst hier alle möglichen Leute.« Er legte eine Visitenkarte auf den Schreibtisch. »Ruf mich an, wenn du es dir überlegst.« Mit einem knappen Nicken ging er. Jörg wartete, bis die Haustür mit einem lauten Knall ins Schloss gefallen war. »Was war denn das für ein Auftritt?« Jan hob die Hände. »Wüsste ich auch gerne.« *** Missmutig betrachtete Jörg den Bildschirm seines Notebooks, dabei konnte das Gerät kaum etwas dafür, dass er in den Weiten des Internets nicht fündig wurde. Andrea setzte sich neben ihn auf die Couch und kuschelte sich an ihn. »Da sieht jemand so aus, als ob er dringend auf andere Gedanken gebracht werden müsste. Habe ich mich schon fürs Abendessen bedankt?« »Hm. Mir wäre jetzt nach einem Nachtisch«, gab er zurück und wollte das Notebook zusammenklappen. »Oh menno, manchmal ist es echt peinlich mit euch«, erklang Idas Stimme von der Tür her. Der Teenager stürmte ins Wohnzimmer und hockte sich auf die Lehne neben Jörg. »Wenn du das Notebook nicht mehr brauchst, kann ich es haben?« »Du hast doch dein eigenes«, erwiderte Jörg wenig begeistert von der Aussicht, dass sie sein Gerät nutzte. Ida neigte dazu, Einstellungen zu verändern, was sie als »optimieren« bezeichnete. »Schon, aber Lukas und ich wollen noch Minecraft zocken. Und auf deiner alten Kiste läuft das, sodass wir uns jeder einloggen können.« »Minecraft? Ich dachte, aus dem Alter seid ihr raus. Waren nicht Fortnite und League of Legends angesagt?« »Es gibt da so einen neuen Modus, der ist echt cool. Wir wollen uns mit einigen aus unserer Klasse auf einem Server treffen.« Sie sah auf die Uhr. »In einer halben Stunde. Bitte, bitte.« Gegen den Blick war er machtlos. »Okay, aber unter einer Bedingung.« »Zimmer aufräumen? Ist erledigt! Meerschweinchengehege? Ist sauber! Geschirrspüler? Ist ausgeräumt! Was denn noch?« »Nee. Etwas, das dir und Lukas Spaß machen wird. Sieh doch mal zu, ob du im Internet etwas über einen Typen namens Paul Winkler findest. Der ist so Ende dreißig, Anfang vierzig und gefällt mir gar nicht.« Neben ihm schnappte Andrea nach Luft. »Mir auch nicht«, stimmte sie Jörg unerwartet zu. Ida nahm sich das Notebook. »Oh, Jan und du seid wieder auf der Jagd? Cool. Megacool. Klar helfen wir euch!« Weg war sie. Erstaunt drehte sich Jörg zu Andrea um. »Du kennst ihn?« »Ja, der hat unseren geplanten Sommerurlaub finanziert.« Jörg brauchte einen Moment, bis er ihre Bemerkung eingeordnet hatte. »Paul hat diesen völlig überteuerten verfallenen Resthof gekauft?« »Ja, genau. Den hat nur die Lage interessiert. Alles andere war ihm egal. Heute Morgen hat er den Kaufvertrag unterschrieben. Woher kennst du den? Und nebenbei, der hat sich gestern Abend in Kappeln mit Jans Vater getroffen.« Jörg schüttelte den Kopf. »Jetzt brauche ich einen Whisky. Ich verstehe nämlich überhaupt nichts mehr!« Andrea schob schmollend die Unterlippe vor, aber ihre Augen glitzerten vergnügt. »Ich dachte, du wolltest Nachtisch.« Er zog sie an sich, bis ihr Kopf an seiner Schulter lag. »Den sollten wir lieber im Wintergarten genießen. Da sind wir ungestört.« Andrea lachte. »Vergiss es. Ich wette, die beiden graben was aus und kommen gleich wieder runtergestürmt.« »Dann warten wir, bis sie Minecraft spielen.« »Hervorragende Idee. Und jetzt erzähl mal, woher du diesen Paul Winkler kennst und was du über ihn weißt.« »Ich kenne den gar nicht. Er ist heute Mittag bei Jan reingeschneit. Er war früher bei der Bundeswehr und kurz in Jans Team. Und Jan war heilfroh, als er versetzt wurde.« Andrea fuhr so heftig hoch, dass ihr Kopf ihn beinahe am Kinn getroffen hätte. »Natürlich. Ich erinnere mich! Der war Unteroffizier, hatte immer einen Haufen Geld zur Verfügung und hat sich aufgeführt, als wäre er der König von Absurdistan!« Die Formulierung brachte Jörg zum Lachen. »Das trifft es. Er sprach nämlich betont von seinem ›Anwesen‹ …« »So kann man die Bruchbude natürlich auch nennen. Michael hat sich über ihn fürchterlich geärgert und war ebenfalls froh, als er ihr Team verlassen hatte. Er und Jan hatten den Verdacht, dass er nicht ganz sauber war, konnten ihm allerdings nichts beweisen. Und er soll immer scheißfreundlich getan haben, hintenrum aber ein ziemliches Arschloch gewesen sein.« Nun lachte Jörg laut. Solche Ausdrücke benutzte Andrea sonst nicht, da kam wohl die Erinnerung an ihren verstorbenen Mann durch, der Jans bester Freund und stellvertretender Teamführer gewesen war. »Meinst du, er hat dich erkannt?« »Nee. Wir sind uns nie begegnet und ich kenne ihn nur aus Michaels und Jans Erzählungen.« Sie musterte ihn prüfend und lächelte dann. »Ich bin so froh, dass ich mich mit dir ganz normal über Michael unterhalten kann. Selbstverständlich ist das ja nicht gerade. Oder dass du einfach so das Kochen und den Haushalt übernimmst, wenn ich arbeite und du freihast.« Jörg zog sie in eine enge Umarmung. »Für mich ist das normal.« »Und deshalb liebe ich dich so.« »Nur deshalb?« Statt ihn zu küssen, versetzte sie ihm einen Knuff in die Rippen. »Nö, auch noch wegen der Aussicht, auf einen Resthof direkt an der Schlei zu ziehen … Ida ist total begeistert, besonders nachdem Lukas versprochen hat, dass er sie dort immer besuchen wird.« »Ach? Und das hat nichts damit zu tun, dass Idas Zimmer größer ist und die beiden dort ihre Ruhe vor uns haben? Während Lukas’ Mutter ihnen alle fünf Minuten Cola oder Kekse anbietet?« »Ganz bestimmt nicht …« Sie lachten beide. Dann wurde Andrea wieder ernst. »Ich weiß zwar nicht, was Paul Winkler vorhat, aber ich traue ihm nicht. Und jetzt, wo ich weiß, wer er ist, bin ich sicher, dass er den Resthof zu einem ganz bestimmten Zweck gekauft hat. Und den müsst ihr rausfinden!« Kapitel 6 Markus König, Oberkommissar im Wirtschaftsdezernat des LKA Kiel, betrachtete unschlüssig die gut zwanzig Zentimeter dicke Akte, die von einem grauen Paketband gerade so zusammengehalten wurde. Obwohl er seinen Job eigentlich liebte, widerstrebte es ihm, die Verschnürung zu lösen und sich mit den Trickbetrügern zu beschäftigen. Der Grund dafür war einfach: Der Fall war aufgeklärt, es mussten nur noch gefühlt Hunderte Formalitäten für die Staatsanwaltschaft erledigt werden. Und dazu hatte er definitiv keine Lust! Er liebte die Jagd auf Verbrecher und die Suche nach Unstimmigkeiten in Firmenzahlen, aber genauso inbrünstig hasste er diese Seite seines Jobs. Seufzend lehnte er sich zurück und gähnte. Die Nacht war entschieden zu kurz gewesen und das lag leider nicht an seinem Lebensgefährten, sondern an seiner Nebentätigkeit als Bassist und Sänger in einer Band. Allmählich kollidierten seine beiden Jobs immer heftiger. Und das hieß dann ständige Müdigkeit, schließlich hatte Bjarne auf Dauer kein Interesse an einem Partner, der die gemeinsame Zeit schlafend im Bett verbrachte. Markus’ Stimmung hob sich bei dem Gedanken an Bjarne. Mittlerweile wohnten sie schon fast zusammen in seiner Wohnung. Bjarne war nur noch zum Wäschewechseln in seinem eigenen Apartment. Ein Teil von ihm konnte es nicht fassen, dass dieser gut aussehende, durchtrainierte Mann Interesse an ihm hatte. Er war eher hager, seine sportlichen Fähigkeiten hielten sich in engen Grenzen, das galt auch für seine Trefferquote am Schießstand und seine Nahkampfkenntnisse – alles Dinge, in denen Bjarne als Mitglied einer Spezialeinheit hervorragend war. Rein äußerlich konnte der Unterschied zwischen ihnen nicht größer sein. Bjarne war groß und muskulös, kleidete sich sportlich lässig und wenn es darauf ankam, stand ihm auch ein Sakko hervorragend. Auf der anderen Seite Markus, der wusste, dass ihn einige Kollegen wegen seiner weißblond gefärbten Haare, den Totenkopfohrringen und den Heavy-Metal-T-Shirts »LKA-Punk« nannten. So ganz unrecht hatten sie damit nicht, er war eine auffällige Erscheinung und eckte gerne mal durch seine offene Art an. Nachdenklich drehte er einen Bleistift zwischen den Fingern. Bisher hatten Bjarne und er im Kollegenkreis wenig anzügliche Bemerkungen abbekommen. Vielleicht lag das daran, dass kaum jemand so bescheuert gewesen wäre, sich mit dem beliebten stellvertretenden Leiter des besten MEK-Teams anzulegen, oder die Zeiten waren für Männer, die Männer liebten, tatsächlich besser geworden. Es klopfte zweimal laut an der Bürotür und Martin Harms, Leiter des Kieler MEK und damit Bjarnes oberster Vorgesetzter, stürmte ins Zimmer, ehe Markus etwas sagen konnte. »Ah, sehr schön, dass dein Kollege nicht da ist und wir das Büro für uns haben. Wir müssen uns unterhalten.« »Ist was mit Bjarne?«, fragte Markus sofort und sein Puls raste plötzlich. Martin runzelte die Stirn. »Nein, natürlich nicht. Die Jungs sind nur im Training. Ohne Jörg halte ich die von Einsätzen fern, so lange wie möglich.« »Wenn es um Bjarne und mich geht, dann …« »Sag mal, spinnst du? Oder ist das wieder einer von deinen völlig übertriebenen und überflüssigen Komplexen?« Nicht nur wegen des scharfen Tons spürte Markus mit einem Mal eine deutliche Wärme in den Wangen. Vermutlich lief er gerade rot an. Musste denn Bjarnes Chef auch in die Kerbe schlagen? Exakt das warfen ihm seine Freunde oft genug vor. Martin sah ihn amüsiert an und ließ sich auf den Schreibtischstuhl fallen, auf dem sonst Markus’ Kollege saß. »Was du und Bjarne macht, geht mich nichts an. Ansonsten freue ich mich für zwei Kollegen, wenn sie glücklich sind, und erwarte eine Einladung, wenn ihr eure Beziehung legalisiert. Sonst noch was?« Es war Zeit für einen Themenwechsel! »Äh, nein. Was ist denn los?« »Das frage ich dich! Ich habe eben eine sehr interessante Mail erhalten. Leider ist der Absender nicht genau feststellbar, derjenige sitzt irgendwo im Verteidigungsministerium, mehr bekommt man über ihn nicht raus.« Markus’ Gedanken überschlugen sich, dann nahm die Erinnerung an eine Bemerkung seines Cousins konkrete Formen an. »Das könnte vom Militärischen Abschirmdienst stammen. Ich meine, Mike hat mal erwähnt, dass die so auftreten, damit man nicht sofort drauf kommt, wo der Absender sitzt.« »Verdammt, genau das hatte ich befürchtet und wollte ich nicht hören! Bist du sicher?« Markus überlegte kurz, wo sich sein Cousin, der beim Kommando Spezialkräfte der Bundeswehr tätig war, gerade aufhielt. »Ich kann ihn anrufen. Der ist auch nur im Training.« »Nicht nötig. Eine Mail und eine Antwort im Laufe des Tages reichen.« Wie überaus großzügig … »Und was wollten die von dir?« Jeder Anflug von Humor verschwand aus Martins Miene. »Eine Einschätzung von Jörg, ein paar Fragen zu seiner Akte und dazu ein paar gezielte Fragen zu einem gewissen Landarzt. Da interessiert sich jemand insbesondere dafür, ob und inwieweit Jan bei uns mitgemischt hat.« Mit offenem Mund starrte Markus sein Gegenüber an. »Holy shit! Wo sind die beiden da reingeraten?« Martin zielte mit einem Zeigefinger auf Markus’ Brust. »Genau das wollte ich von dir erfahren! Bjarne wusste nichts. Oder er wollte nichts wissen. Und darum will ich jetzt von dir hören, was da los ist.« »Nichts«, wehrte Markus ab und prompt wurde Martins Blick drohend. »Ich meine, nichts, das die Einmischung des MAD rechtfertigen würde. Warte, ich zeig’s dir.« Statt sich mit dem lahmen Internet aufzuhalten, das auf ihren Dienstrechnern zugänglich war, öffnete Markus einen Artikel der Eckernförder Zeitung auf seinem Smartphone und reichte Martin das Telefon. »Hier. Lies.« »Phosphorfund in Brodersby?«, fragte Martin, obwohl die Überschrift eindeutig war. »Ja. Jan und Jörg waren mit den Hunden an der Steilküste. Ein Kind hat einen angeblichen Bernstein gefunden und Jan hat Erste Hilfe geleistet, als sich der Mist entzündet hat. Das ist alles.« Damit blieb Markus dicht bei der Wahrheit, denn Jans Frage, ob es einen Markt für alte Weltkriegswaffen gab, die im Meer versunken waren, unterschlug er lieber. Er hatte das für ausgeschlossen gehalten, aber nun würde er weitere Informationen einholen – sobald Martin verschwunden war. Trotzdem verstand er nicht, was der Militärische Abschirmdienst damit zu tun hatte und wieso sich die für Jörg und Jan interessierten. Da er jedoch nicht einmal genau wusste, wofür der Geheimdienst zuständig war, konnte er keine Antwort aus dem Hut zaubern. Wenn Martin gegangen war, würde er seinem Kollegen die Akten auf den Tisch packen und sich mit diesem Thema beschäftigen. Eigentlich tat er damit sogar noch ein gutes Werk, denn sein Kollege sollte sich nach der zweiwöchigen Grippepause keineswegs überanstrengen und damit war die Aktenarbeit perfekt für ihn. So unschuldig wie möglich erwiderte Markus den forschenden Blick, der nach wie vor auf ihn gerichtet war. »Was hast du denen geantwortet?«, erkundigte er sich. »Dass sie gerne persönlich vorbeikommen können und ich ihnen nach entsprechender Prüfung ihrer Legitimation für Auskünfte zur Verfügung stehe.« Markus lachte. »Also die formelle Variante von ›Ihr könnt mich mal‹.« »Ganz genau. Ich erwarte, dass du mich auf dem Laufenden hältst, wenn sich die beiden wieder in hochexplosive Sachen einmischen.« Martin runzelte die Stirn. »Sag mal, dieses Phosphorzeug, gibt’s dafür einen Markt?« Markus rollte mit den Augen. »Das haben mich Jan und Jörg schon gefragt. Soweit ich weiß, nicht, aber ich werde der Sache noch mal genauer nachgehen.« Martin tippte mit den Fingern auf der Schreibtischplatte herum und stand dann auf. »Wenn du das tust, hast du Probleme mit den Zuständigkeiten. Was hältst du davon, wenn du dich für, sagen wir mal, drei Wochen zu uns versetzen lässt? Der Fall könnte vielleicht zu groß für dich alleine sein. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass man mit dem Schrott was anfangen kann, aber irgendwas wird ja den MAD auf den Plan gerufen haben.« Er schob Markus das Handy wieder zu. »Und es macht mich extrem misstrauisch, dass die Jungs so schnell aktiv werden, denn dieser Zeitungsartikel ist erst ein paar Stunden alt.« Markus sah einen Moment gedankenverloren auf seinen Monitor. »Vergiss den Zeitungsartikel, da werden keine Namen genannt. Wenn einer den MAD auf den Plan gerufen hat, dann der Polizeibericht – entweder der über den Phosphorfund oder der über den Toten.« »Den Toten?«, brüllte Martin los. »Ups, das hatte ich wohl vergessen zu erwähnen. Es gab da einen toten Russen …« *** »Der letzte Patient hat abgesagt. Wieder einmal eine Wunderheilung eines Teenagers, nachdem die Mutter erfahren hat, dass eine Klausur auf dem Programm gestanden hat. Das gibt ein paar Gläser köstlicher Erdbeermarmelade! Hoffentlich die mit Rum.« Jan grinste amüsiert. Er kannte mittlerweile einige Schüler, die zu Spontanheilungen neigten, wenn ihre Mütter sie in die Praxis schleppen wollten. Gerda kannte ihre Pappenheimer und legte solche Fälle grundsätzlich auf die Termine vor dem Ende der Sprechstunde, um ihnen so eine längere Mittagspause zu sichern. Da sich die Eltern mit Geschenken aus dem heimischen Garten oder der Küche entschuldigten, konnten sie gut damit leben. Er blickte auf die Uhr. »Perfekt, dann bin ich noch einen Ticken früher bei Lena. Das passt prima.« Gerda sah ihn drohend an. »Nur, wenn du sie nicht zu sehr betüddelst!« »Als ob ich das tun würde«, wehrte Jan ab. Gerda sah ihn stumm an. »Als ob sie das zulassen würde«, ergänzte er. »Na, das wohl eher. Ich verstehe es ja, wenn sich ein Mann um seine Frau kümmert, aber übertreib es nicht!« War da eine eigentümliche Betonung gewesen? Eigentlich konnte Gerda unmöglich von ihrer heimlichen Hochzeit erfahren haben, mittlerweile traute er ihr und Erna allerdings so ziemlich alles zu. Schlagartig wurde ihm wieder bewusst, wie lang die Liste derjenigen war, denen er und Lena etwas zu beichten hatten: Felix, Liz, Richie … Jan dachte lieber schnell an etwas anderes. Er brummte etwas Unverständliches und fuhr den PC runter. »Wir sehen uns Montag.« »Jo. Und mach bis dahin keinen Blödsinn.« Statt sein Zimmer zu verlassen, blieb Gerda stehen und sah an Jan vorbei. Alarmiert überlegte er, was er verbrochen haben könnte. Ihm fiel nichts ein. »Nun spuck schon aus. Was ist denn noch?« »Dimitri meinte, es wäre gut, wenn Lena und du heute Abend im Zeus essen würdet.« »Was?« »Er hat euren Lieblingstisch reserviert und für Lena eine mit Käse überbackene Gemüsepfanne vorbereitet.« Jan verstand kein Wort. Seit drei Monaten waren Lena und er nicht mehr im Zeus gewesen, weil Lena seit dem Zeitpunkt von einem Tag auf den anderen kaum noch Fleisch gegessen hatte. Da er einen Tag zuvor mittags dank Jörg eine Riesenportion von Dimitris köstlichem Gyros gehabt hatte, hielt sich seine Sehnsucht nach dem Griechen in Grenzen. »Wenn du mir nicht erklärst, warum wir das tun sollen, mache ich gar nichts.« »So ein Mist. Dass du aber auch immer so stur sein musst!« Sie setzte sich auf den Stuhl vor Jans Schreibtisch. »Hannes Waldner war gestern im Zeus.« Da sie nicht weitersprach, war Jan damit kein bisschen schlauer. »Ich kenne und schätze Hannes. Und warum sollen wir heute hin, wenn er gestern dort gewesen ist?«, fragte er. »Dimitri und Hannes waren sich einig, dass es ganz gut wäre, wenn ihr da mal auftaucht, ehe es heißt, ihr seid zu fein, um dort zu essen.« Schlagartig ergab Gerdas Vorschlag einen Sinn. »Hat es wieder dämliche Sprüche über uns gegeben?« »Ja. Diesmal hieß es, dass du Jörg zum Essenholen schickst, weil dir die Gaststube zu bürgerlich sei.« »Bitte was? Wer erzählt denn so einen Mist?«, brach es aus Jan hervor. »Das weiß ich nicht genau. Hannes und Dimitri haben da gleich gegengesteuert, aber du weißt ja, wie das ist. Da liegt was in der Luft, das mir nicht gefällt.« Die Tür wurde nach einem scharfen Klopfen aufgerissen und Heiner stürmte ins Zimmer. »Dachte ich mir doch, dass ich euch hier finde, wenn das Wartezimmer leer ist.« Da sein Freund ungewöhnlich aufgebracht wirkte, verzichtete Jan auf den Hinweis, dass er auch einen Patienten hätte behandeln können. »Ist was passiert?« »Zwei Sachen. Ach nee. Moin erst mal. Vor allem dir, liebe Gerda. Entschuldigt meinen Mangel an Manieren, aber ich könnte …« Jans Stimmung hob sich wieder. Nachdem vor nicht allzu langer Zeit Gerda und Heiner wie Katz und Hund gewesen waren, spielte der ehemalige Polizist ihr gegenüber nun seinen Charme aus und die Arzthelferin genoss dies offensichtlich. »Moin, Heiner. Na, erzähl mal, was ist dir denn über die Leber gelaufen? Oder möchtest du erst einmal einen ordentlichen Schluck? Ich habe noch etwas von Hinnarks Apfelbrand da.« Das war Jan neu und er fragte sich, wann Gerda den wohl trank oder eher getrunken hatte. Ehe Heiner zustimmen konnte, eilte Gerda in die Pantry und kehrte mit drei vereisten Gläsern zurück, in denen eine goldfarbene Flüssigkeit schimmerte. Wenn er das ablehnte, war seine Arzthelferin tödlich beleidigt und außerdem schmeckten die Obstbrände des Biobauern verdammt gut. »Na, wenn du mich so bittest«, sagte Heiner, griff nach einem Glas und prostete ihnen zu. Er trank den Schnaps in einem Zug und warf Jan einen entschuldigenden Blick zu. »Reine Nervennahrung, Doc.« »Ich sag dazu nichts … Nun erzähl mal. Was ist los?« »Felix und ich kommen nicht weiter. Wir sind ganz sicher, dass unsere Theorie stimmt: Da holt jemand das Zeug hoch und dabei ist ein Taucher verunglückt. Das passt perfekt, nur …« Er zuckte mit den Schultern und sah auf Jans Glas, das noch halb gefüllt war. Jan schob es ihm zu. »Ich weiß, woran ihr scheitert. Es ist sinnlos, so einen Mist zu bergen, weil man damit nichts anfangen kann.« Heiner leerte Jans Glas und atmete tief durch. »Ganz genau. Was entgeht uns da? Wir haben uns die Köpfe heiß geredet und das Internet durchforstet, finden aber nichts. Und dann sind da noch zwei Sachen.« Er hob einen Finger. »Erstens ist uns nicht klar, wer wissen kann, wo der Dreck liegt. Ich meine, man schippert ja nicht auf Verdacht zwischen Port Olpenitz und Damp hin und her und schmeißt ab und zu einen Taucher ins Wasser.« »Guter Punkt. So weit war ich noch gar nicht. Vielleicht sind wir auf dem Holzweg und das Boot war harmlos.« »Niemals!« Heiner klopfte sich auf den Bauch. »Der hier meldet, dass da was faul mit dem Kahn war, und der irrt sich nicht.« »Okay und zweitens?« »Im Ort wird mit mal jede Menge Mist über dich und Lena erzählt. Irene hat das gehört. So von wegen, ihr haltet euch für was Besseres. Und dass du deine Stellung ausnutzt, um dir Vorteile zu verschaffen, und all so’n Mist. Die meisten glauben das natürlich nicht und diejenigen, die dich gut kennen, mal gar nicht, aber das ist so bösartig, dass da was bei dem einen oder anderen hängen bleiben könnte. Manche sind eben neidisch oder verdammt beschränkt in ihrer Welt und finden das so’n bisschen merkwürdig, wenn der Arzt mit einem Motorrad durch die Gegend rast und dabei Verbrecher jagt.« Gerda schlug mit der Faust so heftig auf den Schreibtisch, dass der Monitor wackelte. »Genau das sag ich doch!« Jan blinzelte irritiert. »Dich stört die Ninja auch?« »Mensch, Jan! Du bist, wie du bist, und das ist gut so. Diese Gerüchteküche gefällt mir nicht!« Sie steckte sich eine Haarsträhne, die ihrem Pferdeschwanz entwichen war, hinters Ohr. »Diese Gerüchte haben so was Böses, etwas, das deutlich über normalen Klatsch hinausgeht. Wir müssen was dagegen tun und wir fangen mit Dimitris Vorschlag an!« Da er Gerdas und Heiners Einschätzung vertraute, nickte Jan. »Okay, machen wir. Ich schicke Lena eine WhatsApp.« »Und überleg mal, wem du auf die Zehen gestiegen bist«, bat Heiner. »Wir müssen die Quelle finden und dichtmachen.« »Da fällt mir leider keiner ein. Aber danke, dass ihr da gegensteuert!« Heiner nickte knapp. »Ehrensache. Irene hat ihre Mädels schon angespitzt und ich werde noch mal eine Runde machen. Es wäre doch gelacht, wenn wir nicht rausfinden, wer unserem Doc schaden will.« Gerda zeigte ihm das Daumen-hoch-Zeichen. »Heute passt es nicht, aber morgen werden Conrad und ich im Zeus essen und die Ohren ganz weit aufmachen. Die Jagd ist eröffnet!« Kapitel 7 Als sich Jan seinem Haus näherte, stutzte er. Die Stichstraße war nicht mehr als ein asphaltierter Weg und es gab keinen Verkehr, der an dem Gebäude vorbeiführte. Deshalb irritierte ihn der dunkelblaue Ford, der wenige Meter hinter seinem Haus auf der Fläche parkte, die er und seine Freunde sonst als Wendeplatz nutzten. Das würde er sich genauer ansehen. Statt den Audi im Carport neben Lenas Mini abzustellen, hielt er direkt vor dem Haus, stieg aus und lief auf den Wagen zu. Ein Mann saß im Inneren und blickte anscheinend aufs Meer hinaus. Ehe Jan den Ford erreichte hatte, fuhr der Unbekannte los, beschleunigte jedoch nicht übermäßig stark. Durch die getönten Scheiben hatte Jan den Fahrer nicht richtig erkennen können, trotzdem kam ihm der Typ vage bekannt vor. Hatte der Mann ihm im Vorbeifahren zugewinkt? Oder war das nur eine entschuldigende Geste gewesen, weil er auf einem Privatgrundstück geparkt hatte? Ratlos ging Jan zur Haustür und nahm sich vor, seine frühere Dienstwaffe wieder zu tragen. Als ehemaliger Angehöriger einer Spezialeinheit verfügte er über einen Waffenschein und eine entsprechende Erlaubnis. Unwillkürlich schmunzelte er. Als er in Brodersby angekommen war, hatten Heiner und er sich nicht ausstehen können. Damals war der ehemalige Polizist noch im Dienst gewesen und hatte vergeblich versucht, ihn wegen unerlaubten Waffenbesitzes dranzukriegen. Dass Heiner und er mal Freunde werden würden, hätte er nie gedacht. Bei dem ersten Verbrechen, das er gemeinsam mit Jörg aufgeklärt hatte, war ausgerechnet Heiners Sohn der Täter gewesen und saß nun für viele Jahre im Gefängnis. Lena öffnete die Tür. »Ist was? Du siehst so angespannt aus.« »Nö, ich musste nur gerade an Heiners Sohn denken.« Sie funkelte ihn an. »Dieser Umweltverschmutzer, dem Geld über alles ging und der unter anderem indirekt für den Tod meiner Tochter verantwortlich ist, verdient es nicht, dass du auch nur einen Gedanken an ihn verschwendest!« Da war ihm doch tatsächlich für einen Moment entfallen, wie empfindlich sie auf Klaus Zeiske reagierte! Und das absolut zu Recht. Damals waren große Mengen giftiger Flüssigkeit in der Gegend abgelassen worden. Obwohl sie es niemals sicher hatten beweisen können, gingen sie davon aus, dass Lenas Baby auf dem Spielplatz damit in Kontakt gekommen war. Nach einem heftigen Hustenanfall war die Kleine gestorben, ebenso wie Jans Vorgänger als Landarzt. Sanft umarmte er sie. »Hey, ich wollte dich nicht aufregen.« »Dann erwähne seinen Namen nicht! Außerdem rege ich mich nicht auf.« Jan erinnerte sich plötzlich an ein Gerücht aus seinen ersten Wochen in Brodersby. Damals hatte es einige wenige Dorfbewohner gegeben, die behauptet hatten, Lena sei am Tod ihres Babys schuld gewesen. Wie er selbst hatte Lena damals erst kurze Zeit in Brodersby gewohnt und fiel durch ihre Vorliebe für farbenfrohe Kleidung und ihren künstlerischen Beruf auf. Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, wie privilegiert er bisher gewesen war, dass er noch nie im Zentrum von miesen Behauptungen gestanden hatte, sondern ohne Probleme von der Dorfgemeinschaft aufgenommen worden war. Sollte es ihn nun treffen, hatte er genug Freunde an der Seite und müsste lediglich scharf kalkulieren, wenn seine Patienten tatsächlich begannen, andere Ärzte aufzusuchen. Da Lena ihn forschend ansah, entschied er sich für ein Ablenkungsmanöver. »Ich habe gerade über eine Radfahrerin nachgedacht, die mich fast umgefahren hätte«, spielte er auf ihre erste Begegnung an. Sein Manöver hatte Erfolg. »Vergiss es. Du hattest dein Schätzchen total bescheuert geparkt …« Nun war das Funkeln ihrer blauen Augen eindeutig amüsiert. »Na warte, das werden wir nachher im Zeus ausdiskutieren! Vorher habe ich noch ein Attentat auf dich vor. Aber natürlich nur, damit du nachher ordentlich Hunger hast.« Jan seufzte theatralisch. »Ich dachte, du wartest wie eine brave Frau mit dem Essen auf mich. Was muss zusammengebaut oder umgestellt werden?« Lenas Lachen verriet ihm, dass er sich erst das Mittagessen und später das Gyros wirklich verdienen würde. Wenn Jan nicht durch Gerda vorgewarnt gewesen wäre, hätte er im Zeus nicht bemerkt, dass ihn ein Ehepaar wenig freundlich ansah und danach miteinander tuschelte. Der Mann hatte Jans Ermahnung, dass er sein Leben umstellen musste, nicht hören wollen und auf weitere Tabletten gesetzt, die seinen Blutdruck und seine Leberwerte regulieren sollten. Wutentbrannt hatte er die Praxis verlassen und angekündigt, sich einen richtigen Arzt zu suchen. Zumindest er schien von den Gerüchten gehört zu haben und verbreitete sie vermutlich auch. Hannes Waldner winkte ihnen dagegen herzlich zu und begrüßte sie lautstark. Dimitri eilte freudestrahlend auf sie zu. »Toll, dass es heute geklappt hat. Du strahlst ja förmlich, Lena. Was für ein schöner Anblick. Euer Lieblingstisch wartet schon auf euch.« »Dass die sich hier mal wieder sehen lassen«, kommentierte eine ältere Frau Dimitris Begrüßung gerade laut genug, dass Jan und Lena es hören konnten. Der Grieche wirbelte zu seinem Gast herum. »Ich habe absolutes Verständnis dafür, dass Lena und ihr Kleines keinen Appetit auf unser gut gewürztes Essen hatten. Deshalb bleiben Lena und Jan aber unsere lieben und geschätzten Freunde!« Lena bedachte die Frau mit einem verächtlichen Blick. »Haben Sie es immer noch nicht überwunden, dass ich nicht bereit war, für hundert Euro sämtliche Zimmer in Ihrem Haus neu zu streichen? Dabei hätte mir das doch inklusive Ihrer Extrawünsche bestimmt einen Stundenlohn von einem Euro eingebracht …« Die anderen Gäste an dem Tisch lachten bei Lenas Retourkutsche und es gab einige anzügliche Bemerkungen über die Geiz-ist-geil-Mentalität in der Gesellschaft im Allgemeinen und bei der Frau im Besonderen. Soweit Jan es beurteilen konnte, gab es außer den beiden unfreundlichen Reaktionen zwar ein paar neugierige Blicke, aber keine direkten Angriffe. Gerda hatte nicht zu viel versprochen. Als Dimitri Lena eine Gemüsepfanne servierte, strahlte sie. »Wieso bin ich nur nicht früher auf die Idee gekommen, dich nach einem vegetarischen Gericht zu fragen? Dann hätte Jan nicht so lange auf dein Gyros verzichten müssen.« »So oft, wie er das mittags gegessen hat, war das kein großes Opfer.« Jans Unschuldsmiene war reichlich wackelig, als Lena ihn strafend ansah. »Und ich habe dich bedauert.« »Ach, die paar Male, wenn Jörg was zu essen mitgebracht hat …« Da Dimitri eine seiner buschigen grauen Augenbrauen hochzog, schwieg Jan lieber. »Wann ist es denn so weit?«, wechselte der Grieche das Thema. »Geplant in einer Woche, aber theoretisch kann es jeden Tag losgehen.« »Nun ja, es kommt, wenn es so weit ist. Ich freue mich schon auf euren Nachwuchs. So, jetzt esst schön und genießt den Abend!« Und das taten sie, bis plötzlich Paul Winkler an ihren Tisch trat. »Jan! Was für eine Überraschung. Und wer ist die schöne Frau an deiner Seite?« Ohne auf eine Einladung zu warten, die ganz bestimmt nicht erfolgt wäre, setzte sich Paul auf den Stuhl, der an dem Zweiertisch lediglich für Dimitris Stippvisiten stand. Paul lächelte Lena gewinnend an. »Ich bin Paul. Ein alter Freund von Jan, den es nun auch in diese wunderschöne Gegend verschlagen hat.« »Lena, Jans … Partnerin.« Jan atmete auf. Wenigstens hatte sie nicht aus Versehen verraten, dass sie verheiratet waren. »Sehr erfreut.« Lena deutete auf den Tisch. »Wenn du was essen willst, wird es eng. Der Platz ist eigentlich nur für Dimitris Ouzoglas.« »Dann beschränke ich mich auf ein schönes Glas Wein. Lasst euch nicht vom Essen abhalten. Ich habe schon gemerkt, dass Dimitri ein wahrer Meisterkoch ist.« Jan rollte demonstrativ mit den Augen. Schließlich war Elena die Küchenchefin, während sich ihr Mann um den Servicebereich kümmerte. Ein letzter Rest seiner Erziehung hinderte Jan daran, Paul zu empfehlen, sich einen anderen Platz zu suchen. Und Lena würde ebenfalls für eine solche Unhöflichkeit kein Verständnis haben. Er entschloss sich zu einer anderen Taktik und ignorierte Paul. Das Essen war der ideale Vorwand, keine Unterhaltung führen zu müssen. Paul schien seine Schweigsamkeit nicht zu stören. Er unterhielt sich mit Lena und stellte dabei einige Fragen, die definitiv zu indiskret waren. Es ging ihn überhaupt nichts an, wie viel ihre Bilder kosteten oder wie viel Geld sie in das Haus investiert hatten. Doch Lena wich diesen Details charmant aus und falls sich Paul darüber ärgerte, ließ er es sich nicht anmerken. Das Gyros war köstlich wie immer: knusprig, hervorragend gewürzt und von einer exzellenten Fleischqualität. Es machte sich bezahlt, dass Dimitri auf Klasse statt auf Masse setzte. Jan ließ das Gespräch an sich vorbeirauschen. Die meiste Zeit erzählte Paul von sich, offensichtlich in dem Bemühen, Lena zu beeindrucken. Aber die Anekdoten klangen einstudiert und gaben keine persönlichen Informationen über ihn preis. Mit einer herrischen Geste winkte Paul den Gastwirt zu sich. »Drei Ouzo auf meine Rechnung.« »Erstens sind Jan und Lena bereits meine Gäste. Und zweitens bezweifele ich, dass Lena einen Schnaps trinkt.« Paul sah Lena auffordernd an. »Du erweist mir doch bestimmt die Ehre, unsere Bekanntschaft mit einem Glas Ouzo zu besiegeln?« Lena legte den Kopf schief. »Hast du schon mal über einen Sehtest nachgedacht?« »Was meinst du?« »Nun ja, eigentlich ist kaum zu übersehen, dass ich im neunten Monat schwanger bin. Damit muss ich auf Dimitris Ouzo leider verzichten.« Pauls fassungslose Miene verriet, dass ihm dieses Detail bisher entgangen war. Da sein ehemaliger Kamerad endlich schwieg, nutzte Jan die Gelegenheit, ihm die Frage zu stellen, die ihn brennend interessierte. »Du musst mir natürlich keine Geschäftsgeheimnisse verraten, aber dass du ausgerechnet mit meinem Vater zusammenarbeitest, erstaunt mich. Woher kennt ihr euch?« Damit hatte Jan offenbar einen Treffer gelandet. Paul sah auf die Uhr. »Verflixt, schon so spät! In deiner Gegenwart ist die Zeit wie im Fluge vergangen, liebe Lena. Ich muss leider los. Wir treffen uns bestimmt bald wieder!« Er stand auf und ging. Lena blickte ihm nach. »Hättest du die Frage nicht eher stellen können? Die hat ihn erfolgreich in die Flucht geschlagen. Das ist ja vielleicht ein Typ! Total von sich überzeugt, versucht, eine Frau zu bezirzen, die in festen Händen ist, und ist dabei so auf sich fixiert, dass er meinen gigantischen Kugelbauch übersieht. Also, ich mag ihn nicht und hoffe, dass war kein Freund von dir. Allerdings ist die Frage ja eigentlich überflüssig, so wie du dich an unserem Gespräch beteiligt hast. Nicht.« Jan schmunzelte, als Lena Idas Teenagersprache imitierte, indem sie die Verneinung als ein einzelnes Wort folgen ließ. »Ich habe ihn nie gemocht. Michael hat ihn sogar für einen Verbrecher gehalten. Reicht das?« »Fast. Was genau macht dein Vater eigentlich beruflich?« »Er ist im Finanzbereich tätig und so etwas Ähnliches wie eine Heuschrecke, allerdings im kleineren Stil.« »Kannst du das für jemanden übersetzen, der von der Materie keine Ahnung hat?« »Er kauft billig Firmen, denen es schlecht geht, poliert sie auf und verkauft sie wieder für viel Geld. Besser?« »Ja. Warum nicht gleich so? Und wie passt das zu Paul? Dass sie zusammenarbeiten, steht ja nach Liz’ Aussage fest.« »Und nach seiner Reaktion ganz sicher«, bekräftigte Jan und zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. So viel Fantasie habe ich nicht. Vielleicht findet Felix im Internet und eventuell im elektronischen Handelsregister eine Verbindung zwischen ihnen.« »Sehr gut. Dann hat er was, womit er sich beschäftigen kann, und wir bekommen hoffentlich schnell eine Antwort.« »Wir?« Lenas drohende Miene brachte ihn dazu, sofort einzulenken. »Okay, wir.« Da Dimitri mit einem Tablett, auf dem drei Gläser standen, zu ihnen kam, beendeten sie das Thema. Er stellte eines der vereisten Gläser vor Lena ab. »Granatapfelsaft! Der wird dir bestimmt schmecken und ist äußerst vitaminreich.« Nachdem sie sich zugeprostet und getrunken hatten, seufzte der Grieche. »Ich mag den Kerl nicht. Obwohl er ein sehr großzügiges Trinkgeld gibt.« »Ich auch nicht«, schloss sich Jan an. Lena nickte nur stumm. Montagmorgen und das Wochenende lag noch in weiter Ferne. Müde blickte Jan auf die Ostsee hinaus. Wieder war der Himmel tiefgrau und das aufgewühlte Meer verstärkte den wenig einladenden Eindruck noch. Außer einem Besuch von Jörg und Andrea am Samstagabend, mit denen sie sich gemeinsam einen hochgelobten Film angesehen hatten, hatten sie nichts vorgehabt und die Ruhe genossen. Von dem Film hatte Jan nicht besonders viel mitbekommen, nachdem Jörg ihm von der Anfrage des MAD erzählt hatte. Statt das Drama auf dem Fernseher zu verfolgen, hatte er nach einem Grund für das Interesse der Behörde gesucht und nicht gefunden. Nach einem ruhigen Tag hatte Lena letzte Nacht kaum geschlafen, weil das Kleine zu sehr getobt hatte. Aus Solidarität war Jan ebenfalls wach geblieben und bekam nun die Quittung. Er gähnte und hielt nach einem Hoffnungsschimmer Ausschau. Sosehr er die norddeutsche Landschaft mittlerweile liebte, so sehr hasste er die grauen, trüben Tage. Aber die Wolkendecke bildete eine feste Front, da hatte die Sonne niemals eine Chance. Statt loszufahren, füllte er seinen Becher zum zweiten Mal mit Kaffee und lauschte auf Geräusche aus dem ersten Stock. Nichts. Lena schlief weiter, nachdem sie in den frühen Morgenstunden endlich eingeschlafen war. Dann würde er sie nicht wecken, auch wenn sie ihm fehlte. Während er den Kaffee trank und dabei einige Möwen beobachtete, die dicht über der Wasseroberfläche nach Fischen Ausschau hielten, überlegte er ein weiteres Mal, wie die Einschaltung des MAD zu dem Phosphorfund passte. Er kannte die Mitarbeiter des Geheimdienstes von den Sicherheitsüberprüfungen des KSK und hatte vor Ewigkeiten mit einem Beamten in Afghanistan zusammengearbeitet. Einen besonders guten Eindruck hatten die Männer nicht bei ihm hinterlassen. Er gab Markus recht, dass die Nachfrage mit dem toten Russen oder dem Phosphorfund zusammenhängen musste, da in beiden Polizeiberichten Jörgs und sein Name erwähnt wurden. Doch das half ihm nicht weiter. In der Mittagspause würde er Felix besuchen und hoffen, dass sein Freund wenigstens herausgefunden hatte, wie sein Vater und Paul Winkler zusammenhingen. Da er nicht an Zufälle glaubte, ging er von einer Verbindung der beiden mit dem Russen sowie dem Phosphorfund aus, gleichzeitig sagte er sich jedoch, dass das Schwachsinn war. So kam er nicht weiter. Er stellte den leeren Kaffeebecher in den Geschirrspüler und machte sich auf den Weg in die Praxis. Gerda war trotz des trüben Montags bester Laune und Jans Stimmung hob sich geringfügig. Wie versprochen hatte die Mutter des Schulschwänzers sie mit Erdbeermarmelade versorgt und ihnen ein paar frische Brötchen von Ernas Kiosk vorbeigebracht. Erna bezog ihre Backwaren von einem Betrieb, der den Teig noch selbst ansetzte, und verschmähte den günstigeren Industriekram. Jan und zahlreiche andere Dorfbewohner wussten die Qualität zu schätzen und bezahlten bereitwillig ein paar Cents mehr. Normalerweise war die Praxis montags brechend voll, weil viele Patienten am Wochenende erkrankten und sofort nach Öffnung an Gerdas Tresen stürmten. Heute verlief der Vormittag deutlich ruhiger. Zwischen zwei Terminen bat Jan seine Arzthelferin ins Behandlungszimmer. »Sag mal, kommt es mir so vor oder ist es heute viel ruhiger als sonst zu Wochenbeginn?« »Mach dir mal keinen Kopp. Das ist das Wetter. Da jagst du ja keinen Hund vor die Tür. Solche Montage hatten wir am Jahresanfang oder im Herbst schon öfter. Aber ich freue mich, dass du meine Bedenken wegen der bösen Gerüchte ernst nimmst. Wir waren Samstag im Zeus und Dimitri meinte, dass wir das Gerede schon ganz ordentlich eingefangen haben.« »Wir?« »Na, Erna, Hinnark, Heiner, Richie, Dimitri, Hannes, meine Wenigkeit … Du hast hier viele Freunde und noch mehr, die dir wohlgesonnen sind. Ich pass schon auf und wenn wieder was aus dem Ruder läuft, machen wir es wie am Freitag. Euer Besuch im Zeus kam sehr gut an. Über diesen Schnacker, der euch genervt hat, gibt’s übrigens sehr geteilte Meinungen. Die einen schätzen ihn, die anderen auch – aber nur, wenn er geht.« Leider wartete der nächste Patient. Sonst hätte Jan das Thema vertieft. »Gibt es sonst noch etwas Neues aus dem Dorfklatsch? Vielleicht was zum Phosphor?« »Na sicher! Da brodelt und zischt es ganz schön. Viele haben Angst, dass im Sommer die Gäste ausbleiben. Du musst dir mal diese Tussi auf Insta ansehen. Die macht da vielleicht ein Drama draus!« »Wen oder was meinst du?« Gerda rollte mit den Augen. »Mensch, Jan. Wo lebst du denn? Die Mutter von dem Gör, das nicht auf euch hören wollte, ist eine Influencerin. Wenn du dir mal den Hashtag Brodersby ansiehst, weißt du, was los ist.« Jan wusste gerade mal, dass es Instagram gab und was das war. Doch das würde er später klären. Wozu hatte er Freunde mit Kindern im Teenageralter? Das war deutlich angenehmer, als bei Gerda Nachhilfe am Smartphone zu nehmen. Sie zwinkerte ihm spöttisch zu und wandte sich ab. »Ich hole dann mal den nächsten Patienten. Da stehen zwei Impfungen auf dem Programm.« Конец ознакомительного фрагмента. Текст предоставлен ООО «ЛитРес». 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