HELL WALKS - Der Höllentrip David Dunwoody Fast über Nacht erscheinen massive Superstürme rund um den Globus. Diese konvergieren in der Arktis und zu einem apokalyptischen Megasturm, stören weltweit Wetter-, Kommunikations- und Sicherheitssysteme. Es herrscht Chaos … dann verebbt der Sturm, die Wolken teilen sich – doch nur, um die wahre Bedrohung preiszugeben.
Höllengänger wird es genannt. Es ist sieben Meilen hoch, und jeder seiner Schritte verursacht Katastrophen, deren Auswirkungen über die Kontinente hereinbrechen. Aus seinem Leib schlüpfen aggressive Monster – jedes für sich in der Lage, eine ganze Stadt auszulöschen. Ohne etwas über die Herkunft dieser Monster zu wissen, sieht sich die Menschheit mit dem Albtraum ihrer eigenen Ausrottung konfrontiert.
Einige Jahre später kommt der Höllengänger zur Ruhe. Er erstarrt, nur seine Nachkommen toben weiter über den Erdball. Frank Eckman führt eine Gruppe Überlebender an, immer darum bemüht, eine Konfrontation mit den Wesen zu vermeiden. Dann beginnen Visionen über den schlafenden Riesen Frank zu plagen. Er glaubt, den Schlüssel zur Beendigung dieser Apokalypse gefunden zu haben. Doch hoch über den Wolken erwacht der Höllengänger … This Translation is published by arrangement with SEVERED PRESS, www.severedpress.com (http://www.severedpress.com) Title: HELL WALKS. All rights reserved. First Published by Severed Press, 2014. Severed Press Logo are trademarks or registered trademarks of Severed Press. All rights reserved. Diese Geschichte ist frei erfunden. Sämtliche Namen, Charaktere, Firmen, Einrichtungen, Orte, Ereignisse und Begebenheiten sind entweder das Produkt der Fantasie des Autors oder wurden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, lebend oder tot, Ereignissen oder Schauplätzen ist rein zufällig. Impressum überarbeitete Ausgabe Originaltitel: HELL WALKS Copyright Gesamtausgabe © 2021 LUZIFER Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden. Cover: Michael Schubert Übersetzung: Andreas Schiffmann Lektorat: Astrid Pfister Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2021) lektoriert. ISBN E-Book: 978-3-95835-637-5 Sie lesen gern spannende Bücher? Dann folgen Sie dem LUZIFER Verlag auf Facebook (https://www.facebook.com/LuziferVerlagSteffenJanssen) | Twitter (https://twitter.com/LUZIFERVerlag) | Pinterest (http://www.pinterest.com/luziferverlag/luzifer-verlag/) Sollte es trotz sorgfältiger Erstellung bei diesem E-Book ein technisches Problem auf Ihrem Lesegerät geben, so freuen wir uns, wenn Sie uns dies per Mail an info@luzifer-verlag.de (mailto:info@luzifer-verlag.de) melden und das Problem kurz schildern. Wir kümmern uns selbstverständlich umgehend um Ihr Anliegen. Der LUZIFER Verlag verzichtet auf hartes DRM. Wir arbeiten mit einer modernen Wasserzeichen-Markierung in unseren digitalen Produkten, welche Ihnen keine technischen Hürden aufbürdet und ein bestmögliches Leseerlebnis erlaubt. Das illegale Kopieren dieses E-Books ist nicht erlaubt. Zuwiderhandlungen werden mithilfe der digitalen Signatur strafrechtlich verfolgt. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de (http://dnb.d-nb.de) abrufbar. Inhaltsverzeichnis Hell Walks Impressum (#u7d702b62-e7d6-5d0a-bdf3-bffde0ebc3b7) Kapitel 1 (#ua394831c-6552-5590-8155-a060f3a5bc9e) Kapitel 2 (#u2074745d-03f6-5e6f-8317-9c78c6b8b262) Kapitel 3 (#u5c278d59-d7e2-5293-a550-43b7340df39f) Kapitel 4 (#u62474725-8a7d-544d-8ba3-94a8b22bfe4d) Kapitel 5 (#u0b27de85-815f-524f-af51-aa510aa952dc) Kapitel 6 (#uc13fa821-916f-54f7-9ae5-1b06493b690d) Kapitel 7 (#u63c11ef5-b57f-54ba-835c-4f2c27dbd7d0) Kapitel 8 (#uc380b064-8a30-5239-8a36-112fed9a5a78) Kapitel 9 (#u4ded9bf1-6fa5-5fe1-b262-c66044de9729) Kapitel 10 (#u8cc130a0-bb1d-5d5c-976c-cde5998a0e82) Kapitel 11 (#u1e32884a-6333-57dd-ae33-72d7e801e840) Kapitel 12 (#u5f2866e1-6dca-5e0b-b744-6424f4d4cf80) Kapitel 13 (#ub0e6077e-2df3-5fb5-8a14-bb7ed3255fdd) Kapitel 14 (#u3559006c-b422-5619-9bff-99fff184f758) Kapitel 15 (#uce1e73de-d30f-5a72-ac33-7fd5b0c8db94) Über den Autor (#u29d92f44-ff5b-552d-9602-4d61abd07ece) Kapitel 1 »Ich habe noch nie einen toten gesehen«, wisperte Caitlin. »Ich auch nicht«, erwiderte Frank. Er sprach kaum lauter als im Flüsterton, doch in dem Vakuum, das sich um die Gruppe herum gebildet zu haben schien, hörte man ihn trotzdem so deutlich wie einen Trompetenstoß. Atmete überhaupt jemand? Frank definitiv nicht, aber es war auch keineswegs so, dass er in dieser Hinsicht immer eine Wahl hatte. Bei solch einer Witterung – der feuchten Kälte, die einem Aprilmorgen vorausging – kam ihm seine Lunge besonders schwach vor. In letzter Zeit hatte es kaum Regen gegeben, doch das Gras war trotzdem glitschig vom Tau und die Luft, die sich wie Öl auf der nackten Haut anfühlte, wehte nur träge. Davon wurde Frank übler und übler. Caitlin kniete gerade hinter einer Betonplatte, die womöglich einmal Teil eines Splitterschutzwalls gewesen war. Diese stand im schrägen Winkel versenkt in der Erde, so als sei sie in die Luft geschleudert worden und dann einfach gefallen, was durchaus so geschehen sein könnte, allerdings vor langer Zeit. Denn Moos wuchs mittlerweile auf der Oberfläche und in den klaffenden Rissen, die an Lichtblitze erinnerten. Frank wollte es ansprechen, doch Caitlins Schwester kam ihm zuvor: »Die Wand ist nicht sicher, kommt rüber«, bat sie Autumn und winkte. Ihre Stimme klang bevormundend, und sie zischte lauter, als ihnen allen lieb war. Frank hörte jemanden, der hinter ihm kauerte, seufzen, bestimmt Dodger, der damit sichergehen wollte, dass man ihn wenigstens hörte, wenn ihm gerade einmal keine sarkastische Bemerkung zu allem einfiel. Caitlin ihrerseits schnitt nicht einmal eine Grimasse für ihre Schwester, stattdessen zog sie sich von der Platte zurück und ging zu Autumn, die nun im Schatten eines Autos stand. Es schien wohl ein Kleinwagen gewesen zu sein, wie ihn Frank einmal zu einer Werbeagentur gefahren hatte, für die er zweifelhafte Werbetexte für fettfreie Süßigkeiten geschrieben hatte, der nun aber ausgeschlachtet worden war. Beim Gedanken an Schokolade lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Gott, wie lange war es her, dass er Schokolade gegessen hatte? »Hast du je einen toten gesehen?«, fragte Caitlin Chia. Im Gesicht des alten Mannes vertieften sich die Falten, als er schmerzlich lächelte und sich die feuchten, grauen Strähnen von der Stirn schüttelte. »Noch nie, Mäuschen. Nur davon gehört, Bilder gesehen, aber von echten toten haben wir uns immer ferngehalten.« Chia hörte sich an, als bedauere er, dass es dieses Mal anders gekommen war, doch sie hatten nicht selbst entscheiden können, weil … Nun ja, dieses Thema jetzt aufzurollen ist unnötig, dachte Frank. Sie waren acht Männer und Frauen, kauerten hinter einer Reihe defekter, ramponierter PKWs und warteten darauf, dass der Morgen graute, um sich am albtraumhaften Anblick eines toten Riesen zu ergötzen. »Es ist eben, wie es ist. Jetzt lasst euch alle einfach nieder und tut so, als würdet ihr sonntags in der Kirche auf einer Bank sitzen. Mensch, vielleicht ist ja heute sogar Sonntag.« Nachdem sie Chias Worte gehört hatte, schien Caitlin nicht mehr ganz so versessen darauf zu sein, einen echten Toten zu sehen. Es gab eine Zeit, da hätte die 19-Jährige wahrscheinlich auf ein Smartphone gestarrt und sich so der schrecklichen Anspannung und Neugierde entzogen, welche die Gruppe nun ergriffen hatte. Mann, Frank wäre es nicht anderes gegangen. Sosehr er auch stets angeprangert hatte, wie Handys die Menschen voneinander entfremdeten, war er jener kleinen Blase der Isolation selbst nicht gerade selten verfallen, besonders in Wartezimmern, Fahrstühlen, Bussen oder an Thanksgiving. Diese Erfindung gab es jetzt, soweit er wusste, nicht mehr. Die einzigen Neuigkeiten und Informationen erhielt man nur noch durch hautnahes Erleben oder Berichte anderer Nomaden, denen man im Dunkeln begegnete. Letztere waren jedoch so vertrauenswürdig wie Franks Anzeigenslogans damals. Cheeseburger aus der Mikrowelle, der Ihnen beim Erreichen Ihrer Bikinifigur hilft: zu schön, um wahr zu sein? Falsch gedacht! Seinerzeit war er ein professioneller Lügner gewesen. Heute spielten jedoch andere Dinge eine Rolle. So etwas wie leichtes Flunkern gab es nicht mehr, ja nicht einmal Märchen, sondern nur noch harte Tatsachen. Denn die Drachen waren jetzt da. Über dem Horizont im Osten sah es aus, als blute der Himmel dunkelblaue Wundflüssigkeit. Ehe sie wussten, wie ihnen geschah, würde der Morgen hereinbrechen. Laut Plan hatten sie dann vor, die Stelle zu bestimmen, an der das Monster angeblich gestürzt war, und es auf ihrem weiteren Weg nach Osten in einem großzügigen Bogen zu umgehen. Und hinterher? Nach Süden vielleicht, denn Süden verhieß normalerweise etwas Gutes, auch weil sie sich gerade im Mittleren Westen aufhielten, wo fast jede Richtung gut war, solange sie nur woanders hinführte. Sie reisten gerade durch Missouri, um genau zu sein. Frank war sich ziemlich sicher, dass der Trümmerhaufen, in dem sie momentan hockten, einmal die Stadt Independence gewesen war. Was für ein Gedanke, dass sie so weit in eine der heißesten Zonen überhaupt vorgestoßen waren, und zwar allein auf Grundlage dessen, was jemand ganz dreist eine schlichte Lügengeschichte genannt hatte … Wie auch immer, dies war kein geeigneter Zeitpunkt zum Grübeln, denn das Blau breitete sich am Himmel aus, und bald würden sie etwas sehen. Frank saß mit dem Hintern auf der Straße und schaute an Chia vorbei, der praktisch ihr Anführer war und danach zu den beiden neuesten Mitgliedern ihrer Gruppe. Es war noch zu früh, um voraussehen zu können, ob sie dauerhaft dabeibleiben oder irgendwann abdriften würden. Frank tippte auf Ersteres. Der Junge, ein 17-Jähriger, den sie Duckie nannten, war eindeutig behindert. Zwar deutete nichts an seinem Erscheinungsbild darauf hin – er sah genauso gebrechlich und zerlumpt aus wie der Rest von ihnen –, doch sein überschwängliches Plärren, als er zu ihnen gelaufen war, hatte es bewiesen. »Wir haben einen Little One gefunden, der tot ist! Er liegt gleich dort vorn und er lebt nicht mehr!« Dies war am vorangegangenen Abend passiert. Der Junge hatte ein zerfallenes Autohaus verlassen, gerade als die Gruppe vorbeigegangen war, und Gott, wie laut er gerufen hatte … es schien so, als sei es das Tollste auf der Welt für ihn, dass nur wenige Meilen entfernt ein Little One lag. Quebra trug als Einziger in der Gruppe eine Waffe und hatte damit sofort auf ihn angelegt. Der Junge war augenblicklich erstarrt und sein Gesicht erschlafft, fassungslos und vielleicht auch erschrocken in Anbetracht der Reaktion. Die anderen in der Gruppe, Frank eingeschlossen, hatten das Ganze nur beobachtet. »Du bist mir ein wenig zu ausgelassen, Sohn«, hatte Quebra mit seiner gleichbleibenden, gebieterischen Stimme gesagt. Steif dastehend hatte er Duckie im Fadenkreuz behalten, während der Junge aschfahl hin und her geschwankt war. »Bist du krank?«, hatte Quebra schließlich gerufen. Dies schien für ihn die einzige Erklärung dafür zu sein, dass jemand so blindlings auf eine Gruppe Fremder zulief, und das auch noch lauthals schreiend. Der Kerl musste einfach infiziert sein. Duckie hatte »Ja« gesagt, fast beschämt und dabei seine Arme hängenlassen. Frank erinnerte sich daran, dass er auf die angespannten Unterarme des Mannes geschaut hatte, seine einzigen Körperteile, die nicht mit Flecktarn bedeckt waren. Er wusste noch, wie er sich gefragt hatte, ob der Soldat den Jungen jetzt einfach so auf der Stelle hinrichten würde, ganz geschäftsmäßig ohne Gnade, und ob das richtig sei. Dann hatte plötzlich eine Frau aus der Richtung des Autohauses etwas gerufen. Sie war durch ein zerbrochenes Schaufenster getreten und hatte schrill geschrien: »Er ist nicht krank, nicht auf diese Art!« Sie war in den mittleren Jahren und hatte unordentlich vom Kopf abstehende, graue Haare (mindestens ein paar davon besaßen auch alle anderen in der Gruppe mittlerweile). Mit flehentlich ausgestreckten Armen war sie auf die Straße zugegangen. »Wir sind nicht krank«, hatte sie gesagt, dabei hatte sie die Ärmel ihres schmuddeligen Strickpullovers hochgezogen und das Haar von ihrem Hals weggeschoben. »Duckie«, hatte sie leise gerufen, »zieh dein Shirt hoch und zeig ihnen deinen Oberkörper. Ganz langsam.« Und zu Quebra fügte sie hinzu: »Er hat keine Waffe, er ist doch noch ein Kind.« Quebra war währenddessen reglos und auch eine Antwort schuldig geblieben. Sein Schweigen hatte alles ausgedrückt, was er dachte. Ob er ein Kind ist, hat nichts zu sagen, ob er bewaffnet oder infiziert ist, darauf kommt es an. Nicht, dass Frank den Soldaten für einen kaltherzigen Menschen hielt, er war nur jemand, der das erledigte, wovor sich alle anderen fürchteten – Dinge, die einfach getan werden mussten. Duckie hatte fast komisch zaghaft, so als mache er sich über die Aufforderung der Frau lustig, sein marineblaues Sweatshirt bis über die Brustmuskeln hochgezogen und sich danach langsam im Kreis gedreht, um seinen nackten Oberkörper von allen Seiten zu zeigen. Er war tatsächlich frei von Läsionen. Quebra hatte sein Gewehr daraufhin ein klein wenig gesenkt. »Er ist geistig behindert«, hatte die Frau ihnen erklärt. Ihr Tonfall war in keiner Weise empört gewesen – kein angedeutetes Wieso ist dir das denn nicht aufgefallen?Wie kannst du es wagen? –, aber Frank hatte eine gewisse Mattigkeit herausgehört, die Erschöpfung einer Person, die eine bindende, liebevolle Verpflichtung eingegangen war und davon langsam aber sicher ausgezehrt wurde. Er wusste noch, dass er deshalb vermutet hatte, sie sei Duckies Mutter. O’Brien war jedoch, wie sich herausgestellt hatte, seine Sonderschullehrerin, beziehungsweise sie war gewesen. Sie hatte ihnen erzählt, dass seine Familie tot sei, genauso wie ihre eigene, und seitdem führe sie ihn durch den Mittleren Westen. Sie war nun also keine bloße Erzieherin mehr, sondern Vollzeitbetreuerin, und Frank vermutete, dies sei so, weil weder ihr noch Duckie jemand anderes im Leben geblieben war. Er hatte gehofft, zwischen den beiden laufe nichts Anstößiges, wenngleich ihm dies nun in den frühen Morgenstunden lächerlich vorkam, als er dabei zusah, wie O’Brien Duckies schmutziges Gesicht mit einem Ärmel abwischte, den sie vorher mit Spucke befeuchtet hatte. Nachdem sie ihn und seine Behüterin aufgenommen hatten, war die Gruppe bis zum Einbruch der Dunkelheit in dem Autohaus geblieben, um sich danach wieder auf den Weg zu machen, der sie angeblich zu einem der toten Riesen bringen würde. Sie hatten allerdings nur quälend langsam Fortschritte gemacht und oft angehalten, weshalb sie erst jetzt auf diesem mit Fahrzeugen verstopften Straßenabschnitt an dem zerstörten Splitterschutzwall hockten und darauf warteten, die Kreatur endlich sehen zu können ... den Little One, wie Duckie und so viele andere sie nannten. Der Junge tat dies allerdings ohne jedwede Ironie, und zwar deshalb, weil es, obwohl die Little Ones rund dreihundert Fuß hoch waren, noch einen viel Größeren gab, der weiter nördlich stand. Es ist, wie es ist. Hier saßen sie nun, während die Sonne und der Nachthimmel Schisshase spielten. Frank, ein ehemaliger Werbetexter mit einem Lungenleiden und Gelenken, die wehtaten, sobald er sich auch nur bewegte; Chapperino, ein alter Sack und ursprünglich aus Queens, der fast übermenschliche Geduld – er hatte während Quebras Konfrontation mit Duckie nichts gesagt – und unglaubliches Mitgefühl gegenüber anderen Menschen an den Tag legte. Der Junge selbst, der eigentlich in Ordnung, wenn auch bisweilen ein wenig laut war, weshalb man ihn wiederholt daran erinnern musste, dass es menschliche Monster gab, vor denen man sich in Acht nehmen musste, und O’Brien die in jeder Hinsicht die typische Ersatzmutter verkörperte, und ungefähr so alt wie Frank zu sein schien, also über vierzig, obwohl sie genauso verhärmt und verlebt aussah, wie sie alle. Auch Caitlin und ihre Schwester Autumn zählten zu den neuesten Zuwächsen der Gruppe. Erstere hatte langes, ungewöhnlich schwarzes Haar, vielleicht weil es so lange nicht gewaschen worden war, obwohl es noch sehr gesund wirkte. Aus diesem Grund fiel es Frank auch so oft ins Auge. Sicher, das Mädchen war attraktiv, doch Franks Gehirn verarbeitete den Anblick einer jungen Frau nicht einmal mehr in seinen primitivsten Niederungen auf solch eine Weise. Jene müßigen, oft schmutzigen Gedanken, die einem Mann wie es schien ungeachtet der Umstände, regelmäßig in den Sinn kamen, hatten deutlich nachgelassen, als alles vor die Hunde gegangen war, und hatten wesentlicheren Instinkten die Führung überlassen. Autumn war ebenfalls hübsch, und ihr glattes Haar machte einen gepflegten Eindruck, auch wenn es wohl schon einen Monat her war, seit ihnen zuletzt genügend sauberes Wasser zur Verfügung gestanden hatte, um irgendetwas zu waschen. Ihr Haar war rot; als sie noch allein mit ihrer Stiefschwester unterwegs gewesen war, hatte sie sich irgendwann die Zeit genommen, um in eine Drogerie einzubrechen, und hatte sie in einem kräftigen Rotton gefärbt. Sie sah wie knapp dreißig aus, und »Cate« war jünger als sie. Wenn Frank an sie dachte, dann eigentlich immer nur im Zusammenhang mit Caitlin, weil Autumn bisher stets darauf geachtet hatte, kein bisschen von ihrer Persönlichkeit preiszugeben, sie war nahezu verbissen zugeknöpft. Caitlin war zwar offener, doch die Ältere hielt sie an der kurzen Leine, und wie straff diese gespannt war, wurde zu manch seltenem Anlass recht offensichtlich. Dann kam Quebra, der stets für einen Scherz zu haben war, außer er wurde »scharfgemacht«. So umschrieb es Chia, wenn bei ihm die Ausbildung des Soldaten durchbrach, sodass er sich merklich versteifte. Frank hatte sich bei diesem Vergleich an einen Jagdhund erinnert gefühlt, aber nichts weiter dazu gesagt. Wenn Quebra nicht »scharf« war, konnte er gut und gern eine Stunde lang mit Chia an einem Feuer sitzen und ein Pointenfeuerwerk abfackeln, bis niemand mehr an sich halten konnte und aus voller Kehle lachen musste. Das war gut, wenn auch ein wenig unsicher, doch Frank vertrat die Meinung, sie wären nie so weit gekommen, wenn es nicht hin und wieder auch mal etwas zu Lachen gegeben hätte. Quebra, ihr abgerichteter Killer, wusste dies eventuell sogar noch besser als jeder andere. Blieb noch das letzte Mitglied ihres Oktetts, Ethan Dodgman – oder auch Dodger, wie er am liebsten genannt wurde. Sechsundzwanzig, Sohn eines Gouverneurs, Neffe eines US-Senators und wohlhabend: Dies waren jene Informationen, die jeder über ihn wissen sollte. Dinge, die allerdings in der jetzigen Welt keine Relevanz mehr besaßen. Für Frank gab es keinen Grund, Dodgers Behauptungen anzuzweifeln, aber sie waren ihm genauso wie auch allen anderen egal. Das einzig Zwingende an Dodgers Geschichte war seine Verbannung aus dem mit allen Schikanen ausgestatteten Atombunker der Familie, nachdem er den kürzesten Strohhalm gezogen hatte. »Bedauere, Sohnemann, wir haben einfach nicht genug Platz für alle zwölf von uns, aber du bist ja noch jung. Du hast bessere Chancen, dich da draußen allein zu behaupten, als dein alter Herr. Amerika braucht deinen Vater, Sohnemann, sie brauchen ihn hier unten in der Einsatzzentrale.« Frank stellte sich vor, wie Dodgers Erzeuger diese eiskalte Abschiedsrede mit einem Glas Scotch in der Hand geschwungen hatte. Ein wahnsinniger Aristokrat, der glaubte, die US-Regierung existiere noch, und es gebe weiterhin einen Machtsitz mit seinem Namen darauf. Andererseits schien auch der Sohn dieser Annahme zu sein. Denn obwohl er die Scheiße hier draußen schon gut drei Jahre mitmachte und erlebt hatte, wie ziviles Aufbegehren zu einem Bürgerkrieg geworden war, bis keine Bürger mehr übriggeblieben waren, redete er nach wie vor wie Mr. Jahrgangssprecher, der sich bei einem Kongressabgeordneten um eine Praktikumsstelle bewarb. Sie alle warteten darauf, einen toten Riesen zu sehen. Es ist, wie es ist. *** Als es hell genug war, um den Feldstecher benutzen zu können, stand Quebra auf, stützte die Ellbogen auf das Dach einer auseinandergenommenen Limousine und schaute hindurch. »Da ist er«, raunte er ehrfürchtig und verkrampfte dabei seinen ganzen Körper. »Gleich dort drüben liegt er, compadres.« Dodger fuhr sofort hoch. »Lass sehen.« Ohne das Fernglas von den Augen zu nehmen, entgegnete Quebra: »Tu dir keinen Zwang an.« Alle erhoben und näherten sich ihm langsam von hinten, als könne er sie beschützen, falls das Wesen plötzlich wieder zum Leben erwachte und sie entdeckte. Dass so etwas passieren konnte, hatte Frank zwar noch nie gehört, nicht einmal in den verrücktesten Räuberpistolen anderer Nomaden, aber er rechnete insgeheim trotzdem halb damit. Seine Knie knackten und knirschten, als er sich von seinem Platz auf der Straße aufraffte und neben den Soldaten stellte. Großer Gott, er war nur noch hundert Yards entfernt. Der riesige, fürchterliche Kopf lag in einem Asphaltkrater auf dem Parkplatz eines Schnellimbisses. Er war tatsächlich gleich dort drüben. So nahe war Frank einem von ihnen, noch nie gewesen, und als die Sonne endlich aufging, sah er den sogenannten Little One in all seinen abscheulichen, erschreckenden Einzelheiten so deutlich vor sich, dass er fast zusammenzuckte. Es war so, als bemerke man, dass man schlafwandelte, kurz bevor man eine Hand auf eine glühend heiße Herdplatte legte. Dodger und Autumn fuhren in ähnlicher Weise zusammen, wobei sich Letztere fest an Caitlins Oberarm klammerte. Der Kopf des Little Ones war lang und schmal, insgesamt schnabelförmig und abstoßend scharfkantig. Er erinnerte an eine Pinzette mit Zähnen, allerdings aus glattem, knochenartigen Material, eine Art Panzer oder Exoskelett, wie Frank annahm. Sie waren im Fernsehen gezeigt worden, als man noch gesendet hatte, und er kannte sie von Fotos aus der Zeit, als es noch Fotografie gegeben hatte. Manche Menschen nannten sie Beingiganten, doch jetzt aus unmittelbarer Nähe sah er, dass die Beschaffenheit der Kreatur eher versteinertem Holz als Knochen glich. Entlang der spitzen Schnauze, die sich zu Greifhaken verjüngte, konnte er eine feine Körnung erkennen. Das Maul war geschlossen, doch Frank hatte schon Aufnahmen des offenen Schlunds gesehen. Statt schnappender Ober- und Unterkiefer spreizten sich bei ihnen vier Mandibeln und zuckten in der Luft herum wie die Finger einer gierigen Hand. In deren Innenfläche hatte Frank einen Blick auf ein nasses Loch wie eine Wunde erhascht, den eigentlichen Rachen. Sie hatten Menschen gefressen, das war eine Tatsache. Allem Anschein nach mussten sie das nicht; allem Anschein nach lebten sie von nichts außer ihrem Hang zu mutwilliger Zerstörung. Lange stachelige Arme mit wulstigen Fäusten zerschlugen Fahrzeuge und Gebäude. Frank hatte sich den Film angesehen. Ihre eigentümlich gebeugten Beine pflügten dabei unumwunden durch Brücken, als ob die Bauwerke kein Recht besäßen, dort zu stehen, und die Brücken stürzten einfach ein: mit Autos, Stahltrossen und Menschen. So etwas taten die Little Ones, wenn sie lebten. Dieser hier lag allerdings vollkommen bewegungslos da, und sein blutroter Augapfel wurde von etwas geschlossen gehalten, das aussah wie eine Knochenscheibe. Er erweckte den Eindruck, so tot zu sein, wie man es sich nur vorstellen konnte, zumindest insoweit, wie Frank ihn sehen konnte. Denn der Rest des Körpers unterhalb der Schultern lag verborgen hinter einem Einkaufszentrum, das von einem längst ausgebrannten Feuer verrußt war. »Wie lang ist er?«, wollte Caitlin wissen. Die Frage war an Chia gerichtet. Er antwortete: »Größer als ein paar Hundert Fuß werden sie nie, soweit ich weiß.« Dreihundert Fuß aber entsprach zum Beispiel fünfzig Menschen übereinander oder auch der Höhe eines Bürohochhauses, es bedeutete verdammt nochmal Ende im Gelände, wenn er auf dich trat. Aber er gab bei allem Schrecken, den er erregte, ein wirklich atemberaubendes Bild ab. Man versetze sich nur einmal in jenen Augenblick, als er hier niedergegangen war … wie die Erde gebebt, und wie jedes noch intakte Fenster in der Umgebung zerbrochen sein musste ... wie aufgegebene Fahrzeuge gesprungen und die Schutzwälle eingestürzt sein mochten! Wenn sich ein Little One bewusst und mit Absicht bewegte, war es noch schlimmer, wie Frank wusste. Er wollte kein solches Monster mehr lebendig sehen, nicht nach dem Letzten. »Wenn das ein Little One ist«, fragte Caitlin, »wie groß ist denn dann ein Big One?« In Augenblicken wie diesem wandte sich anscheinend jeder an Frank. Gerne hätte er ihnen bei solchen Fragen entgegnet, dass er Werbetexter war, kein Dichter und schon gar kein Journalist, doch sie wollten, dass er es ihnen erzählte. Er hatte es zwar lediglich in den Nachrichten gesehen – der Rest der Gruppe auch, soweit er wusste –, doch sie erachteten ihn trotzdem als ihren Fachmann im Umgang mit Worten. Caitlin folgte den Blicken der anderen, wobei ihre fragenden Augen funkelndes Sonnenlicht auf ihn warfen. Er wandte sich kurz von ihr ab und räusperte sich, bevor er sprach: »Ein Big One ist … Bist du jemals mit einem Flugzeug gereist, Cate?« »Als Baby«, erwiderte sie. »Ich kann mich nicht mehr daran erinnern.« Da sie neunzehn war, musste sie auf die Welt gekommen sein, kurz, nachdem das alles begonnen hatte und bald darauf hatten kommerzielle Fluggesellschaften den Betrieb wohl nach und nach eingestellt. Frank überlegte ein paar Sekunden lang. »Also, Flugzeuge wie sie dich und mich damals befördert haben, stiegen für gewöhnlich dreißigtausend bis fünfunddreißigtausend Fuß hoch, bis in die Wolken also. Manchmal ist man über ihnen geflogen und konnte von den Fenstersitzen aus auf sie hinunterschauen, das war schon ziemlich fantastisch.« Es stimmte wirklich. Der Mensch hatte zu jener Zeit den Himmel und darüber hinaus noch weitaus mehr beherrscht, die ganze Exosphäre mit ihrem unvorstellbaren Wust aus Satelliten und Schrott. Doch in diesem Fall ging es um den Big One, der jetzt in Chicago stand, bereits seit Jahren schlafend. Was schlafend bedeutete, war dahingestellt. Die meisten Menschen ließen es geflissentlich darauf beruhen, damit ihre wiederkehrenden Albträume nicht noch schlimmer wurden. »Der Big One«, fuhr Frank fort, »ist ungefähr sieben Meilen hoch. Das sind annähernd siebenunddreißigtausend Fuß. Er schwebt also nicht nur sprichwörtlich mit dem Kopf über den Wolken.« Caitlin nahm diese Redewendung nicht zur Kenntnis, und so sprach er einfach weiter: »Der höchste Berg auf der Erde ist der Mount Everest, und der Big One überragt ihn noch einmal um achttausend Fuß. Man hat nie herausgefunden, wie so etwas Hohes und Schweres überhaupt laufen kann.« »Die meisten Leute nennen ihn übrigens gar nicht Big One«, warf Quebra ein, der immer noch durch seinen Feldstecher schaute. »Sie sprechen von dem Drachen und dergleichen. So sieht er aber gar nicht aus, besonders jetzt nicht. An etwas, das so groß ist, einzelne Merkmale auszumachen, ist schwierig. Er war schon immer eher wie ein sehr hoher Berg.« »Mir hat es der Ausdruck Höllengänger angetan«, meinte Chia leise. Er schaute die anderen an. »Sehr theatralisch ... wie aus der Bibel, finde ich, aber wenn mir je etwas von biblischem Ausmaß untergekommen ist, dann dieses Ding.« Andere nannten es einfach das Tier, und es gab je nach Sprachraum und Religionszugehörigkeit noch weitere Variationen, doch Chia hatte recht: Höllengänger brachte es durchaus treffend auf den Punkt, nur dass die Kreatur nicht mehr ging und es – so Gott existierte – auch nie wieder tun würde. Außer natürlich, er selbst hatte sie gesandt. Autumn zeigte auf den Little One, der auf dem Parkplatz lag. »Wir haben schon einmal einen gesehen. Dabei waren wir zwar nicht ganz so nahe dran wie jetzt, aber …« Ihre Stimme verklang, und sie drückte Caitlin fest an sich. Fast hätte sie sich dazu hinreißen lassen, etwas Persönliches zu äußern und eine Vorgeschichte preiszugeben. Caitlin tat es dann tatsächlich: »Ich erinnere mich. Weil ich hinten im Van unter einem Haufen Zeug lag, bekam ich nichts davon mit, aber es muss zu der Zeit gewesen sein, als wir noch im Tornadogürtel gewesen sind. Ich habe drei Windhosen, die hinter uns hergejagt sind, gesehen, bevor mein Kopf unter ein paar Gepäckstücke geschoben wurde.« Sie schaute Autumn aus den Augenwinkeln an, um anzudeuten, dass ihre große Schwester dies getan hatte. »Wir sind dort aufgewachsen. Es heißt, die Stürme seien wegen der Monster nur noch heftiger geworden. So sind auch Mom und Dad gestorben.« »Caitlin!«, herrschte Autumn sie an. »Stimmt doch! Und wir versuchten dann, diese drei Tornados mit den Gundersons zusammen in deren Van abzuhängen. Dann erblickte Autumn aber einen Little One hinter den Windhosen und drückte mich runter, bevor ich ihn auch sehen konnte. Sie meinte, sie könne ihn ganz deutlich erkennen, und er würde laufen!« Frank sagte nichts dazu, sondern vollzog nur den Stimmungswandel zwischen den Geschwistern mit, aber Duckie meldete sich zu Wort: »Er rannte vor den Wirbelwinden weg? So heißen Tornados nämlich auch: Wirbelwinde.« »Richtig«, bestätigte Caitlin mit abwesendem Blick, »aber nein, er ist hinter uns hergelaufen.« »Sie haben es also doch auf Menschen abgesehen«, sagte Quebra. »Das erkannten auch wir schon früh. Deswegen orientierten sich die meisten auch an Städten, selbst solche wie den hier, die es umgehauen hat. Immerhin tauchen ja immer wieder neue Menschen auf.« »Menschen wie wir«, knurrte Chia. »Aber wir wurden gelinkt, ansonsten wären wir nie hergekommen.« »Dann hättet ihr aber Duckie und mich auch nicht gerettet«, gab O’Brien zu bedenken. Dem setzte niemand etwas entgegen. »Ja, ihr habt uns wirklich gerettet«, betonte sie wieder, »und wir würden uns euch gern anschließen. Ich weiß, wir kommen euch vielleicht wie ein Klotz am Bein vor, aber wir können auch mit anpacken. Duckie ist viel, viel stärker, als er aussieht.« »Bin ich«, bekräftigte der Junge. »Viel, viel, viel.« »Na ja«, erwiderte Chia, »nicht dass wir abstimmen würden oder so etwas, aber ich schätze, es sollte formell beschlossen werden: Hat irgendwer ein Problem mit diesen beiden netten Personen?« Dodgers Schweigen war bedrückend – als hätte er auch jemals nur die Hälfte seines eigenen Gewichts tragen müssen –, aber wenigstens bewies er jetzt Anstand und hielt seine dumme, verzogene Klappe. Es schien so, als habe der Little One, der tot auf der anderen Straßenseite lag, jeglichen Reiz des Neuen eingebüßt. Schon seltsam, wie ein Moment unverfälschter Menschlichkeit so etwas schaffen kann, dachte Frank. Dann fiel ihm plötzlich auf, dass es, obwohl der Wind gerade aus der Richtung des Toten wehte, nicht nach Verwesung stank. Im Grunde lag überhaupt kein bemerkenswerter Geruch in der Luft. Er tippte Quebra auf die Schulter. »Ja, Boss?«, murrte der Soldat. »Können wir irgendwie sichergehen, ich meine zu hundert Prozent, dass das Ding da tot ist?« »Es liegt schon mindestens eine Woche dort«, sagte O’Brien daraufhin. Dodger schob seine Hände in die Hosentaschen und begann, auf und ab zu gehen. »Stimmt. Vielleicht sollten wir uns zurückziehen. Außerdem ist da ja auch noch die Krankheit und ich würde gern vermeiden, dass sich jemand von uns infiziert.« »Wir rühren ihn nicht an, Dodgman«, versicherte ihm Quebra. »Wer weiß, was er selbst angerührt hat«, blaffte Dodger zurück. »Ihr wisst doch, dass sie die Krankheit verbreiten! Was, wenn er diesen ganzen Ort schon mit Blut, Rotz oder Scheiße versaut hat, bevor er verreckt ist?« »Ist ja gut, ist ja gut«, beschwichtigte ihn Chia. »Unser Freund hat nicht ganz Unrecht. Ich finde, wir haben genug gesehen. Belassen wir es dabei und ziehen weiter.« Als etwas leise und tief dröhnte – es klang wie ein Furz –, musste Duckie plötzlich lachen. Franks Blick fiel auf den Little One, und eine Sekunde lang war er sich sicher, sogar zu zweihundert Prozent, dass sich die Kreatur bewegt hatte. O’Brien kniff den Jungen, damit er schwieg, ehe sie alle auf den Riesen starrten. Man hatte die Little Ones im Zuge zahlreicher Raketenangriffe niedergestreckt, und das bereits vor langer Zeit. Frank hatte noch nie erlebt, dass etwas weniger Aufwändiges funktionierte. Dieses scheinbar unberührte Wesen … War es vielleicht tatsächlich an Altersschwäche gestorben? Könnte ein solches Wunder möglich sein, und all dies würde einfach so zu Ende gehen, infolge des Alterns und durch Überlastung? Womöglich hatte sich dieser auch nur eine ganz gewöhnliche Erkältung eingefangen, so wie in Krieg der Welten. Vielleicht war er aber auch gar nicht tot. Vielleicht hatte er sich bewegt. Frank bemerkte, dass wieder alle die Luft angehalten hatten. Da seine Lunge brannte, atmete er stoßartig und viel zu laut aus. Quebra warf ihm einen finsteren Blick zu. Die Pupillen des Soldaten veränderten sich, dann zeigte er mit dem Fernglas über Franks Schulter. »Scheiße!« Kapitel 2 Indem Quebra zwei Schritte nach vorn machte, zwang er die Gruppe zum Auseinandergehen und riss dabei sein Sturmgewehr hoch. »Mills!«, brüllte er und gab zwei Schüsse ab. Caitlin zuckte zusammen und Duckie hielt sich die Ohren zu. Frank drehte sich um und folgte Quebras Schusslinie zu einem Parkhaus neben der Ruine eines Krankenhauses auf der anderen Straßenseite. Es dauerte einen Augenblick, doch dann erkannte er einen Schatten, der auf dem Dach des Gebäudes kauerte. Von der Straße aus und im frühmorgendlichen Licht tat sich Frank schwer damit, die Gestalt als Mills zu identifizieren, aber er verließ sich auf Quebra, zumal es ihn auch nicht im Geringsten überraschte. Sie waren Mills weniger als einen Monat zuvor begegnet, nicht lange nach Autumn und Caitlin. Die Frau hatte ihnen erzählt, sie habe einmal für die Seuchenschutzbehörde gearbeitet, und in einem Bunker vor Kansas City lagere ein regelrechter Schatz an Impfstoffen, Antibiotika sowie anderer medizinischer Versorgungsgüter. Die Gruppe hatte ihr geglaubt und war deshalb hier. Sie hatten sich darauf eingelassen, weil es unmöglich und in niemandes Urteilsvermögen, einen böswilligen Grund dafür geben konnte, so etwas fälschlicherweise zu behaupten. Warum sonst sollte man sich nach Illinois und damit zu einem Höllengänger wagen, sich also einer Großstadt nähern, die sehr wahrscheinlich weiterhin ein Ziel der Little Ones war? Warum eine Geschichte von Arzneimitteln erfinden, wenn dabei weder Obdach noch materielle Bereicherung in Aussicht stand? Ein solches Unterfangen war selbstmörderisch. Sechs Menschen durch ein solches Fegefeuer schicken und kurz vor dem Ziel zugeben, es sei nur ein Märchen gewesen. Was das anging, hatten sie Mills schlecht gekannt. Falls es irgendwie hilfreich gewesen war, dann als kalte, harte und eindrückliche Lehre über menschliche Monster. Mills hatte sie belogen, weil sie verrückt war und sich, um es mit ihren eigenen Worten zu sagen, gelangweilt habe. Als sie ihnen schließlich reinen Wein eingeschenkt hatte, dastehend auf einem verheerten Freeway am Stadtrand von Kansas City, war sie ganz sachlich geblieben. Nicht einmal niederträchtig gelächelt hatte sie, sondern einfach nur gemeint: »Vielleicht hätte ich euch gleich sagen sollen, dass ich in Wirklichkeit niemals für den Seuchenschutz gearbeitet habe.« Mills war mittleren Alters und sah … na ja ... normal aus. Frank glaubte, sie auf so eine Art und Weise einzuschätzen, verrate ein gewisses Vorurteil, dem er selbst aufsaß, doch feststand: Er hatte sie für eine normale Person gehalten, die unmöglich psychopathisch sein konnte, sie alle hatten das getan. Dahinter steckte mehr als der Wunsch, ihre Aussagen glauben zu wollen, nämlich die Annahme, dass eine weiße Frau über vierzig einfach keine gemeingefährliche Irre sein konnte. Tja, Lektion gelernt. Es war ja auch nicht so, dass jemand von ihnen an einer Krankheit gelitten hätte, jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinn. Das sagenumwobene Lager des Seuchenschutzes zu erreichen war nicht wirklich dringend notwendig für sie. Bei Franks Leiden handelte es sich um eine genetisch bedingte Bindegewebsschwäche, und einige in der Gruppe wussten noch nicht einmal davon. Was die übrigen Mitglieder betraf, so wirkten sie zumindest gesund. Es bedurfte ja auch einer aktiven Gruppe, um so weit kommen zu können. Sie hatten ein gutes stabiles Verhältnis zueinander, und auch wenn sich ihre höchsten Ziele darauf beliefen, den nächsten Sonnenaufgang zu erleben, schöpften sie Sinn aus einer Welt, in der nichts mehr Sinn ergab. Aber Mills war einfach nur gelangweilt gewesen und hatte sie deshalb betrogen. Sie hatte ihnen gesagt, sie wundere sich darüber, dass sie ihr tatsächlich so verflucht weit bis nach Kansas City gefolgt seien, und dann hatte sie versucht, Chia mit einem spitzen Stein zu erschlagen, als er ihr zu nahe gekommen war. Quebra hatte sein AR-15 genommen und ihr den Griff auf den Schädel geschlagen. Als sie wieder zu sich gekommen war, hatte Mills feststellen müssen, dass sie mit einem Seil aus seinem Rucksack gefesselt worden war. Chia war derjenige gewesen, der sie schließlich angesprochen hatte. »Wir haben darüber diskutiert«, so seine Worte, simpel wie jene, die auch Mills selbst gebraucht hatte. »Wir lassen dich hier so zurück. Du darfst weiterleben, weil wir uns nicht auf deine Stufe stellen wollen, bleibst aber gefesselt. Und …« Seine Züge waren düsterer geworden, wie sich Frank entsann, und seine Falten tiefer. Chia hatte das alles nur schwerlich über die Lippen bringen können, es aber letztlich doch geschafft. »Wer auch immer dich findet, wird schnell erkennen, was du bist. Nie wieder sollst du jemandem so schaden, wie du uns geschadet hast.« Mills hatte ihn begriffsstutzig angesehen und gefragt: »Was meinst du damit? Habt ihr mich etwa gebrandmarkt?« Dann war sie unruhig geworden. Die Vorstellung, gezeichnet worden zu sein, musste ihre Sinne geschärft haben, weshalb ihr nun auch aufgefallen war, dass ihr Rücken brannte. Auf dieser Welt litten die Menschen ständig in irgendeiner Weise körperlich, doch sie hatte einen neuen Schmerz empfunden und sich im Knien aufgerichtet, ihre zusammengebundenen Hände verrenkt und dabei mit den Zehen Halbkreise im Sand hinterlassend. »Was habt ihr getan? WELCHES WORT IST ES?« Es war kein Brandmal, Quebra hatte ihr mit seinem Messer das Wort »LÜGNERIN« ins Kreuz geritzt. Dann hatte er sich neben sie gekniet und ihr dieselbe Klinge ins weiche Fleisch hinter dem Wangenknochen gedrückt, woraufhin sie sofort still geworden war. »Du wolltest mit uns spielen«, hatte er gesagt. »Jetzt spielen wir mit dir.« So war sie alleingelassen worden, und die Gruppe hatte sich weit entfernen müssen, bis Mills’ Schwall von Flüchen verklungen waren. Das Ganze hatte sich erst vor ein paar Tagen zugetragen. Frank war sogar schon dazu übergegangen, sie zu vergessen, Quebra offensichtlich nicht. Er hatte sich eine doppelt so lange Nachtwache auferlegt, bisweilen von der Dämmerung bis zum Morgengrauen dagesessen, ohne von jemandem abgelöst zu werden, und außerdem noch Autumn im Gebrauch verschiedener Schusswaffen unterwiesen, die er mit sich führte. Obwohl der Mann zuverlässig mit seinem kleinen Arsenal umzugehen wusste, hatte er Chia, Frank und nun auch Autumn das Schießen beigebracht. Dodgers Bitten hingegen, es auch lernen zu dürfen, wurden von ihm stets ignoriert. Er selbst war nicht lange nach Autumn und Caitlin beziehungsweise kurz vor Mills zur Gruppe gestoßen. Es schien solche Wellen zu geben, dass mehrere Personen jeweils zur gleichen Zeit starben oder in Erscheinung traten. Im vergangenen Monat hatte sich das Karussell allerdings besonders schnell gedreht, und so würde es voraussichtlich noch eine ganze Weile weitergehen. Auf dem Parkdeck streckte Mills ihre Arme gerade frei in die Luft, bevor sie sich wieder hinter der Betonbrüstung des Dachs versteckte. Quebras Doppelschuss war eine Warnung gewesen, doch nun folgte er ihren Bewegungen aufmerksam. Er wandte sich zu Chia und fragte ihn: »Was denkst du, Boss?« »Sie wird uns nicht in Ruhe lassen«, meinte Autumn hinter ihm. »Wer ist sie denn überhaupt? Und was hat sie getan?«, wollte O’Brien wissen. »Sie bedeutet Ärger«, antwortete Chia leise. »Nichts als Ärger, und wir haben ihr trotzdem ihre Chance gegeben.« »Sie ist diejenige, der wir auf den Leim gegangen und der wir hierher gefolgt sind«, erklärte Frank O’Brien. »Es stimmt, wir hätten euch beide gar nicht gefunden, wenn das nicht passiert wäre, aber sie ist verrückt, und damit meine ich wirklich geistesgestört. Ihretwegen kommen wir noch alle ums Leben.« Quebra nickte beipflichtend. Frank wusste, er hatte Mills eigentlich sofort töten wollen, sich aber dann doch Chia und dessen Verständnis von Nachsicht gefügt. Damit war es jetzt allerdings vorbei. »Glaubst du, sie ist allein?«, fragte Frank den Soldaten. »Und immer noch unbewaffnet?« »Hoffen wir es«, entgegnete Quebra. Er kniff die Augen zusammen. »Da oben ist sie auf jeden Fall nicht mehr.« Er begann, seinen Blick durch das Visier am Parkhaus entlang schweifen zu lassen. »Das Miststück wollte uns nur wissen lassen, das es sich noch dort draußen herumtreibt. Hätte sie damals einfach umlegen sollen. Fuck.« Frank fühlte sich jetzt unwohl und empfand genauso. Alles würde sich fortan darum drehen, dass Mills ihnen nachstellte, solange sie die Sache mit ihr nicht klärten. Sie einfach so auf dem Freeway unschädlich zu machen wäre wirklich besser gewesen. Frank hätte zwar nicht den Schneid dazu besessen – hatte er auch jetzt noch nicht –, doch andererseits … so konnte es nicht weitergehen, wenn sie in jedem Schatten jedes Gebäudes mit dem Schreckgespenst Mills rechnen mussten. Das Angstgefühl in Franks zusammengezogenem Magen verwandelte sich nun in Wut. Er schaute hinüber zu Chia, um zu sehen, ob sich der alte Mann im Herzen genauso umbesonnen hatte, entdeckte aber nur Kummer. »Mach dir keine Vorwürfe«, schob Frank schnell hinterher. »Kann ja sonst niemandem die Schuld dafür geben«, murrte Chia. »Also«, hob Dodger an, während er das Parkhaus im Auge behielt. »Ich schlage vor, wir suchen uns einen höheren Fluchtpunkt.« Entweder taten sie dies oder sie mussten verschwinden, doch man schien wortlos darin übereinzukommen, in der Stadt zu bleiben und dieses Problem zu beheben, bevor sie aufbrachen. Wie zur Bestätigung nickte Chia. »Ich werde das Gebäude an der Westseite des Krankenhauses auskundschaften«, beschloss Quebra. Er streifte seinen nicht gerade leichten Rucksack ab und wühlte darin herum. Nachdem er zwei Pistolen herausgefischt hatte, gab er sie Chia beziehungsweise Frank. Diesem bereitete das Gewicht der Waffe Unbehagen, und er blickte verhalten zu Autumn. »Willst du zufällig Ausguck spielen?« »Heute nicht«, entgegnete sie. Frank verzog sein Gesicht und steckte sich die Pistole in den Hosenbund. Dann drehte er sich wieder zu dem Little One um, dessen beeindruckender Anblick abermals wegen menschlichen Theaters in Vergessenheit geraten war. Er lag nach wie vor im selben Krater aus Asphalt, mit geschlossenem Auge, doch sie mussten von ihm fort, ob er tot war oder nicht. Frank fand es ironisch, auch wenn er nicht ganz sicher war, ob der Begriff in diesem Zusammenhang wirklich passend war, dass ein erlogener Arzneimittelbestand sie zu diesem gefallenen Ungeheuer geführt hatte, das eine grässliche, unheilbare Krankheit in sich barg. Diese war dem Planeten Erde fremd, eine bakterielle Infektion von irgendeinem fernen Stern, aus einer anderen Dimension oder woher auch immer diese Riesen ursprünglich stammten. Sie äußerte sich zunächst in roten Läsionen groß wie Untertassen. Die Haut wurde erst straff, hart und tat weh. Dann brach sie auf, sodass blutende Löcher klafften und letztendlich, falls das Opfer lange genug durchhielt, wie Frank zu Ohren gekommen war, zu erbärmlich trockenen Scharten wurden, woraufhin bald der Tod einsetzte. Er hatte Infizierte im ersten und zweiten Stadium gesehen, aber noch keine im Endstadium, jenem Schweizer-Käse-Grauen. Diese, so hieß es, verloren letztendlich ihren Verstand. Wem ginge es nicht so? Die Gruppe ließ sich im Schatten zwischen den ausgeweideten Autos nieder. Auf den Gehsteig umzuziehen und die Karosserien als Deckung vor Mills zu verwenden würde gleichzeitig bedeuten, dem Little One näherzukommen. Während er dabei zusah, wie Quebra die Straße hinunterschlich und schließlich verschwand, fragte Frank: »Warum steigen wir nicht in eins der Autos?« Er zeigte auf einen langen Chevy-Familienbus, der ein paar Fahrzeuge weiter in der Schlange stand. »Da würden wir alle hineinpassen.« »Sieh nach«, erwiderte Chia. Er wirkte geknickt und haderte immer noch mit sich selbst wegen der Entscheidung, Mills am Leben zu lassen. Frank klopfte ihm im Vorbeigehen aufmunternd auf die Schulter. Der Wagen war leer, weder verdreckt noch vermüllt, und die Seitentür ließ sich mit ein wenig Mühe öffnen, wobei sie allerdings metallisch ächzte. Frank ließ die anderen zuerst einsteigen. Alle Fensterscheiben fehlten natürlich, und unter der Haube befand sich bestimmt auch nichts mehr, aber das tat nichts zur Sache, wenn Benzin nur noch in der Erinnerung existierte, und drinnen war es gefühlt kälter als draußen. Caitlin zitterte, während sie sich an ihre Schwester schmiegte. »Ich halte dich warm«, sagte Autumn. »Unsere Körper sind noch erhitzt genug. Kennt jemand vielleicht ein paar gute Witze?« Dodger neigte den Kopf zu der Seite, wo der Little One lag. »Ha.« Dann deutete er in die Gegenrichtung, wo er die irre Lügnerin wähnte, und ließ ein »Hee« folgen. »Stell dir vor, wir seien deine Wähler, wie wär’s?«, schlug Chia vor. »Muntere uns doch ein bisschen auf, Dodger.« Der jüngere Mann schwieg und schmollte. Er war nie zu irgendetwas gewählt worden. Seine eigene Familie hatte ihn ins kalte Wasser springen lassen. Chias Scherz war möglicherweise boshafter rübergekommen als beabsichtigt, doch darum schien sich niemand zu kümmern, denn Dodger hielt endlich mal den Rand. »Seid ihr alle Freunde?«, fragte Duckie. Er war auch still gewesen; solange, dass sie ihn fast schon vergessen hatten. Frank, der hinterm Steuer neben Chia saß, drehte sich nach ihm um. »Ich denke, das kann man mehr oder weniger so sagen. Denn heutzutage braucht man Freunde.« »Dr. O... « Duckie schien sich selbst zurückzupfeifen und ballte seine Hände dabei zu Fäusten. »Miss O’Brien ist meine beste Freundin.« Die Erwähnte lächelte. »Ich versuche weiterhin, ihm beizubringen, dass er die Förmlichkeiten bleibenlässt. Er weiß, er darf mich Mary nennen, wenn er möchte.« »Erst wenn du mich Greg nennst«, gab Duckie zurück. »Aber ich dachte, Duckie gefällt dir besser.« »Tut es auch.« Er lächelte; ihm fehlten recht viele Zähne. Frank tastete die Lücken in seinem eigenen Gebiss mit der Zunge ab. Es waren zum Glück bis jetzt nur wenige, aber vermutlich dauerte es nicht mehr lange, bis er Beeren mümmeln musste, um sich zu ernähren. »Wie lange seid ihr alle denn schon unterwegs?«, fragte O’Brien. Chia setzte sich gerade hin und dachte nach. »Also, ich glaube, es ist erst vier oder fünf Wochen her, dass die Mädchen und Dodger dazugekommen sind.« Er klopfte Frank auf den Arm. »Wir zwei schlagen uns allerdings schon vier Jahre durch.« Es waren eher dreieinhalb, doch Frank wies ihn nicht darauf hin. Ebenso gut konnte es auch schon ein Jahrzehnt sein. Zahlen waren unerheblich, wenn man sich in guter Gesellschaft befand. Frank zeigte mit einem Daumen auf Chia, der durch die zerbrochene Windschutzscheibe Ausschau hielt, während er selbst erzählte: »Wir haben uns direkt nach dem Zusammenbruch kennengelernt. Als die Regierung zerfiel und alles im Chaos versank.« »Ich war damals mit meiner Frau und meinem Jungen unterwegs«, fügte Chia mit geübter Distanziertheit hinzu. »Josie und Bryan. Leben beide nicht mehr.« Duckie sah verwirrt aus, als er das hörte. Er suchte O’Briens Blick, die ihm verständnisvoll zunickte, und dann fiel schließlich der Groschen bei ihm. Dodger in der Mitte zwischen ihnen starrte währenddessen angeödet aus dem Fenster. »Wir trafen Quebra …Das ist jetzt über ein Jahr her, nicht wahr? Ihn und Kotz.« Chia schaute Frank an, der halb mit den Achseln zuckte und halb nickte. Der Alte fuhr fort: »Kotz … das arme Schwein. Er tappte in eine alte Biberfalle und verlor seinen Fuß, danach wurde er dann krank. Wir haben nie erfahren, ob die Falle noch aus der Zeit vor dem Zusammenbruch stammte und aus hehren Gründen aufgestellt worden war oder von irgendwelchen Verrückten.« Quebra hatte seinem Soldatenkameraden daraufhin den Gnadenschuss versetzt. Frank wusste noch, dass er selbst außerstande gewesen war, es mit anzusehen, wohingegen sich Chia dazu gezwungen hatte. Seiner Erklärung zufolge habe er lernen müssen, brutal zu sein. Der alte Mann brauchte, wie es schien, immer noch Unterricht darin, doch das störte Frank keinen Deut. »Mittlerweile wissen wir also, dass Mary Lehrerin und Duckie ihr Schüler gewesen war«, rekapitulierte Frank. »Du warst ebenfalls Schülerin Caitlin. Autumn, was hast du vor alledem getrieben? Ich meine beruflich.« Den Nachsatz hängte er an, um nicht zu aufdringlich zu wirken. »Ich war Kassiererin.« Mehr sagte sie nicht, was allerdings auch durchaus angemessen bei der Frage war, wie Frank fand. »Fehlst nur noch du, Dodge«, fuhr er fort. »Bin auch noch zur Schule gegangen«, antwortete Dodger, »und meinem werten Herrn Vater im Büro zur Hand gegangen. Für den Senator habe ich hin und wieder auch ein bisschen PC-Kram erledigt, ich galt nämlich als Computerwunderkind.« Frank hätte gern gewusst, ob Dodger über irgendwelche Interna bezüglich des Höllengängers und der Little Ones verfügte. Da der Mann jedoch nicht weiter darauf einging, widmete sich Frank nun seinem Freund. »Chia hier ist ein Tausendsassa, so etwas wie ein Schweizer Armeemesser.« »Das ist nur beschönigend für rastloser Rentner« Der Alte grinste zurückhaltend. »Ich habe immer gesagt, dass ich bis zu meinem Tod arbeiten möchte, und na ja, bin wohl auf dem besten Weg dorthin, nicht wahr? Das Leben an sich ist schließlich heute schon eine Plackerei.« »Wie steht es mit dir, Frank?«, meinte Autumn. Er dachte, sie sei verärgert, weil er sie in Verlegenheit gebracht hatte, aber sie machte einen aufrichtig neugierigen Eindruck. »Ich schrieb Texte für eine Werbeagentur«, gab er an. »Anzeigen in Zeitschriften größtenteils und überwiegend für Nahrungsmittel. Aufregend, ich weiß, ich war so begeistert davon, wie ihr jetzt alle ausseht, aber ich habe damit anständiges Geld verdient.« »Hattest du eine Familie?«, bohrte Autumn weiter nach. Er studierte ihre Züge, soweit dies in dem dunklen Bus möglich war. Versuchte sie vielleicht doch, ihm eins auszuwischen, damit er sich merkte, dass er nicht herumschnüffeln durfte, wenn es um sie und ihre Schwester ging? Er konnte es nicht genau sagen, doch niemand durfte dadurch Genugtuung erhalten, dass er dichtmachte, niemand sollte Franks Tragödie für etwas anderes halten als exakt das, was sie gewesen war. »Ich lebte geschieden – eine Ehe ohne Kinder –, traf mich aber gerade regelmäßig mit einer Frau, als alles zur Hölle ging. Sie wurde überfahren. Die Unruhe im Volk, die wir alle miterlebt und ignoriert hatten, war zu Krieg ausgeartet, und … Ich kann nicht einmal nachvollziehen, wie man es als Krieg bezeichnen konnte, doch das tat man. Schätze, im Grunde genommen dauert er sogar weiter an, nur lassen sich anscheinend keine eindeutigen Parteien bestimmen, nicht seit die Regierung hinfällig geworden ist. Es handelt sich lediglich um Menschen, die aufgeben. Wie dem auch sei: Auf den Straßen herrschte Panik. Es gab einen zwielichtigen Bericht, dem zufolge einer der Little Ones unterwegs zu uns war. Wir überquerten gerade eine Straße, sie stolperte, und ein Lastwagen rollte einfach über sie hinweg. Das war’ s.« In einiger Entfernung donnerte es. Als die Insassen des Familienbusses durch die fensterlosen Rahmen hinausschauten, um zu bestimmen, aus welcher Richtung das Geräusch kam, blickte Frank in die aufsteigende Sonne und spürte plötzlich einen dumpfen Schmerz in der Brust. Daraus ergab sich eine Anspannung, die auf seine Gelenke abstrahlte. Shit. Komm schon, Mann, ist doch nur Regen, du musst dich nicht aufregen. Ihn beschlich stets das Gefühl, Feuchtigkeit und Niederschlag würden sein Leiden noch verschlimmern, doch kein Arzt hatte ihm das je bestätigen können. Es war reine Kopfsache, er musste sich nur beruhigen und von der Sonne wegschauen ... *** Damals, bevor alles in die Binsen gegangen und das Träumen zur Bedeutungslosigkeit verkommen war, hatte Frank im Schlaf aberwitzige Dinge erlebt. Die meisten hatte er aufgeschrieben und war dem Wachtraum aufgesessen, eines Tages Schriftsteller zu werden – ein richtiger Autor –, der Werbebranche den Rücken zu kehren und aus seinem umfangreichen, zerfledderten Traumtagebuch Romane zu stricken. Doch dazu war es nie gekommen. Was den Traum von heute Morgen betraf, so hatte er nicht einmal mehr Stift und Papier, um die Details festhalten zu können, doch Frank würde sie behalten, und zwar für immer, weil ihn dieser Traum fast das Leben gekostet hätte. *** Er stand auf einem gepflasterten Weg am Fuß eines Hügels. Es war der Ausläufer eines Gebirges, und der Weg führte genau dort hinein, aber die sorgsam ausgelegten Steine wichen bald unbefestigten Serpentinen, und der Berg selbst verschwand in der Höhe wie ein Turm im Nebel, wobei Frank nur eines in den Sinn kam: Höllengänger! Höllengänger heute, ein regloser, künstlicher Berg im – nein, eigentlich auf dem Ostteil von Chicago, der am Michigansee lag. Trotzdem machte er sich auf den Weg nach oben, hastig sogar, um das Pflaster hinter sich zu lassen und den Pfad zu betreten. Als er die Füße darauf setzte, erschien plötzlich eine Frau vor ihm. Er nahm zumindest an, es sei eine Frau. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt, ein beachtlicher Anblick: lang, schlank und offenbar umschlungen von rötlich braunen Ranken. Ihre Haut war hellgrau und sah aus, als fühle sie sich kalt an. Die Ranken wuchsen an den Hüften zu Bündeln zusammen, die ihr Gesäß einrahmten, sich dann wieder voneinander lösten und wie Wasser an ihren langen, geschmeidigen Beinen hinunterflossen. Ihr Hinterkopf wurde in ähnlicher Weise von adrig anmutendem Pflanzenmaterial umschlossen, obwohl es hier und dort von Dornen gespickt war. Es war eine Frau, eine Graue Frau, und als sie sprach, wusste er, dass sich ihre Lippen nicht bewegten. Wer bist du?, fragte sie. Ihre Stimme hatte etwas Vorwurfsvolles an sich, so wie jene einer Lehrerin, die auf einen Jungen gestoßen war, der im Schulflur herumgammelte. Herumgammeln, dachte Frank. »So würde ich mich niemals ausdrücken.« Dann wurde ihm bewusst, dass er laut gesprochen hatte. Bei den nächsten Worten spürte er, dass sich ihr Mund bewegte. Sie wollte wissen: »Woher kommst du?« Weil ihm nichts Besseres einfiel, antwortete Frank: »Aus Connecticut – ursprünglich.« Die Frau begann, langsam auf dem Pfad weiterzugehen. Die Ranken an ihren Beinen wiegten sich dabei geräuschvoll wie ein Perlenvorhang. Frank nahm irgendwie verzögert wahr, dass er ihr folgte. Irgendwann fiel ihm auf, dass sie barfuß ging, aber der natürliche Grund mit seiner unebenen Beschaffenheit und all den Steinchen tat ihr offenbar nicht weh. Als er die Graue Frau erneut ins Auge fasste, dauerte es nicht lange, bis Nebelschwaden um ihr Kleid herum waberten. Sie stiegen immer weiter auf und Frank kamen plötzlich Bedenken. »Sollen wir das wirklich tun?«, meinte er zögernd. »Du musst nicht«, lautete ihre Antwort. Frank folgte ihr weiter. Schon war der Nebel stickiger Dunst und jagte Frank Platzangst ein; er fühlte sich wie bei seinen richtig schlimmen Anfällen. Der Letzte war zum Glück schon lange her, aber er entsann sich noch der Enge, die er um Lunge und Herz empfunden hatte, sowie der Befürchtung, er müsse gleich sterben ... seine nachgiebigen Arterien würden platzen und ihn in seinem eigenen Blut ertränken. Jene Erinnerung lenkte seinen Blick wieder auf die Ranken, welche die Graue Frau umgarnten, eine Person, die mindestens acht Fuß groß war. Es handelte sich zweifelsohne um eine Riesin, doch sie wollte Frank nichts Böses. Er entspannte sich und zwang sich, durch den Nebel hinter ihr herzugehen. Sollte er sie aus den Augen verlieren, besaß er keinen Orientierungspunkt mehr und würde bestimmt von diesem Berg stürzen. Der Dunst nahm einen ätherischen Glanz an, als Sonnenstrahlen einfielen. Endlich begann er, sich zu lichten. Er sah nun, dass sie sich auf einer zerklüfteten, hervorstechenden Stelle ungefähr auf halbem Wege den Berg hinauf befanden. Frank machte den Hals lang und versuchte, einen Blick zum Gipfel zu erhaschen, doch auf dieser Höhe war alles mit dichten Wolken verhangen. »Gräme dich nicht darum«, riet ihm die Graue Frau. Sie trat von der Kante der Felszunge auf eine schwankende Seilbrücke, die scheinbar wie aus dem Nichts erschienen war. Frank folgte ihr abermals. Die Stricke waren zerfranst und straff gespannt, während die Holzsprossen anscheinend mit nichts an ihnen befestigt waren, sondern einfach nur auf einem Bett aus Knoten lagen. Dennoch bot jede von ihnen Frank einen festen Tritt. »Weshalb bin ich hier?«, sprach er in Richtung des Rückens der dahinschreitenden Grauen Frau. Die Brücke beschrieb eine fließende Rechtsbiegung, die völlig unmöglich war, stieg danach an, und führte die Zwei zu einem anderen Gebirge. »Jetzt ist es nicht mehr weit« war alles, was die Frau entgegnete. Sie erreichten das andere Ende der Brücke auf dem neuen Berg. Vor ihnen tat sich eine Öffnung wie zu einer Höhle auf. Ohne sich Frank zuzuwenden, stieg die Graue Frau auf das Felsband vor dem Eingang und trat dann zur Seite, um Frank vorausgehen zu lassen. Er betrat die Höhle. Als er sie passierte, machte er keinerlei Anstalten, ihr Gesicht erkennen zu wollen, weil es als vereinbart galt, dass er lediglich ihren Rücken sah, egal, aus welchem Winkel er sich ihr näherte. Die Innenwände der Höhle bestanden aus rotem Gestein, und eine unsichtbare Lichtquelle spendete warme Helligkeit. Frank durchschritt einen schmalen Tunnel, der sich zu guter Letzt in einen Raum ausweitete. Dessen Wände waren in unzählige Fächer unterteilt, gehauen aus dem Felsen selbst, und darin befanden sich enorm dicke Bücher. Ein Band sah älter und verschnörkelter aus als der andere, jeder ließ Franks Hände winzig wirken, als er sich anschickte, sich danach auszustrecken und sie ein Stück weit herauszuziehen. Er zierte sich beinahe davor, sie zu berühren, weil ihr Inhalt, egal welche Wahrheit die goldverzierten Einbände auch bargen, bestimmt wehtun würde. Dann sah er einen Wälzer mit einem Einband aus funkelndem Metall. Auf dem Buchdeckel war ein liegender Drache eingeprägt. Dieses Mal konnte sich Frank nicht zurückhalten. Er nahm es aus dem Regal, aus einer Nische, in der es vermutlich über Jahrtausende hinweg gesteckt hatte, womöglich genauso lange, wie die Graue Frau schon auf jenem Bergpfad gewandelt war, und als er es in den Händen hielt, stellte er fest, dass es verschwindend wenig wog. Er legte die Finger vorsichtig an die Kante des Buchdeckels und klappte es auf. Die erste Seite war schwarz und glatt, ein faseriges Papier, dicker als gewohnt. Frank wollte zur Kante unten rechts greifen und die Seite umschlagen. Alles Weitere geschah plötzlich ganz schlagartig: Das Papier riss, knitterte und zerknüllte ganz von selbst, von der Mitte aus aufgetrennt in vier Fetzen, die sich auffalteten und sich in die vier Mandibeln eines schreienden Little Ones verwandelten – jene gespreizten Kneifer, die einen Stadtbus auseinanderbrechen konnten –, woraufhin das Buch auf einmal nach Frank schnappte. Er ließ es los, sobald er das Grauen erkannte, doch irgendwie gelang es dem Band, ihn weiter zu bedrängen, indem er der Schwerkraft trotzte, und aus dem gezackten, roten Loch in der Mitte drang plötzlich zwischen den zuckenden Kiefern ein Schrei; der Schrei des Riesen in seiner ganzen abstoßenden Herrlichkeit. Er schrie den Menschen an. »Frank! Frank!« Es war absurderweise seine eigene Stimme, die er hörte, und obendrein aus seinem eigenen Mund. Hier war sonst niemand, der ihn wecken konnte. Wecken? Dies war letzten Endes nur ein Traum gewesen. »WACH AUF, FRANK!«, brüllte er sich selbst an, während der Einband des Folianten wie Schwingen flatterte und die Mandibeln noch immer nach seinen Wangen schnappten. »WACH AUF, FRANK!«, dröhnte Chia und klatschte ihm wieder und wieder ins Gesicht. Seine ungleichmäßig geschnittenen Fingernägel kratzten dabei an dessen Wangen. Frank schoss im Fahrersitz des ausgeweideten Familienbusses hoch und hustete. Seine Lungenflügel brannten und er schlug mit einer Faust aufs Lenkrad. »Verdammt! Ich bin ...« »Wir müssen los!«, rief Chia und lehnte sich über seinen Freund, um die Tür zu öffnen. Als Frank hinausschaute, sah er, dass die anderen bereits da waren … und liefen. »Mills!«, bellte er. »Es ist nicht Mills, verflucht!«, blaffte Chia. Er schubste Frank aus dem Van, der draußen gnädigerweise sofort Fuß fasste und sich schwankend in Bewegung setzte. Gott, taten seine Knie weh, und seine Knöchel auch. Er humpelte von dem Fahrzeug fort, und als er sich umdrehte, um sicherzugehen, dass Chia ihm folgte, war da ... Dort. GLEICH DORT, TATSÄCHLICH DIREKT VOR IHNEN. Ich habe doch geahnt, dass er nur schläft. Der Little One erhob sich in diesem Moment hoch in die Luft, wobei Schutt von seinen knochigen Schultern fiel, und während er seinen seltsamen Schnabel schüttelte, ertönte ein knarrendes Geräusch. Dann blickte er auf sie hinab, riss sein Maul, das aus vier Zinken bestand, auf und kreischte. Franks Ohren fiepten unsäglich, und er rechnete augenblicklich damit, dass sein Herz explodierte, doch Chia hatte bereits seinen Arm gepackt, und halleluja, war der alte Mann flott zu Fuß. Frank schaute nach vorn, wo die anderen gerade die Straße hinunterliefen: Autumn, Caitlin, Dodger, Duckie und O’Brien. Kein Quebra ... er war wohl immer noch auf Erkundungstour, aber mittlerweile wusste er wohl, was passiert war. Dies erinnerte Frank endlich daran, dass er eine Waffe hatte, und er machte sich von Chia los, um sie aus seiner Hose ziehen zu können. Er starrte das Ding verwirrt an. Die Erde bebte, sodass er einen Sekundenbruchteil lang nichts unter seinen Füßen spürte. Dann drehte er sich um; der Little One näherte sich und gab abermals Laut. Chia rief Franks Namen und er lief los, so schnell es seine elenden Knochen zuließen. Dass er das Schlusslicht der Gruppe bildete, lag nahe, denn er war die verwundete Antilope. Das Monster würde ihn zuerst dahinraffen, und vielleicht war das sogar gut, wenn die anderen dadurch verschont bleiben würden. Frank ließ sich all das mit einer weit entfernt klingenden Stimme durch den Kopf gehen, während er hinkend folgte. Allerdings hätte er Chia die Pistole geben sollen, falls dies wirklich sein Ende bedeutete. Gute Munition an den Little Wichser zu vergeuden ergab nämlich keinen Sinn. Er ist überhaupt nicht klein; gut erkannt, Caitlin. Hätte er Luft zum Atmen bekommen, hätte Frank laut gelacht. Wieder erzitterte der Boden und warf ihn beinahe nieder. Chia schlug ihm auf den Arm. »Frank! Was tust du da, Frank?« »Meine Knie«, japste er, und dann sagte er: »Krieg keine Luft.« Abrupt und ohne Zögern blieb Chia stehen, zog seine eigene Pistole und feuerte eine Salve auf die Kreatur. Das darauffolgende Brüllen konnte nichts weiter als ein Ausdruck von Verärgerung sein, denn die Untiere waren praktisch kugelsicher – ausgenommen ihre Rachen –, sogar die Augen, die sich nicht brechen, ja nicht einmal durch gezielte Energiestrahlen blenden ließen. Chia hatte den Riesen also nur wütend gemacht, und genau das teilte ihm Frank nun erstickt röchelnd mit. »Als wäre er das nicht sowieso!«, empörte sich der Alte, doch sein Blick drückte Zustimmung aus. Der Rest der Gruppe lief noch ein paar hundert Yards weiter neben dem Krankenhaus her, doch Caitlin und Autumn waren stehengeblieben. Sie rangen anscheinend gerade miteinander. Er erkannte nicht, wer von ihnen zu ihm und Chia zurückkehren wollte und wer sich dem widersetzte. Er hätte zwar ins Blaue tippen können, doch für Verbitterung gab es keinen Grund, denn er war sowieso ein toter Mann und Chia jetzt vielleicht auch. Franks Zähne vibrierten, und er hörte ein vernichtendes Knirschen, als der Little One den Van zertrat. Er drehte sich wieder zu ihm um. »Chia, Mann, nun lauf schon.« »Um Gottes willen, nein! Bist du irre?« Der Alte rüttelte so kräftig an Franks Schulter, dass dieser dachte, sein Arm werde gleich abfallen. »Es ist noch nicht aus, los Bewegung!« In diesem Moment schien der Little One Frank genau anzuschauen, denn sein emotionsloses, rotes Vogelauge wurde mitten in der Drehung starr. Irgendwo in dieser Kugel, einem Meer aus Karmin, machte Frank eine scharfe, kleine Pupille aus. Diese verschwand rasch wieder, und der offene Schnabel des Monsters sauste auf ihn herab. Genauso wie damals in dem einen Traum, dachte Frank und gab sich zufrieden damit, dass dies sein letzter Gedanke sein würde. Erneut ertönte ein Donnergrollen, dieses Mal viel näher; ein ratterndes Maschinengewehr spottete seiner, doch der Little One avancierte mit seinem Gebrüll, mühelos zum Sieger dieses Wettstreits, als faserige Fetzen aus seinem offenen Schlund flogen. Quebra! Er vergeudete kostbare Munition, um Frank zu retten. Zeichen und Wunder … Frank lief wieder los. Der Little One machte einen Satz nach vorn, so dicht an Chia und Frank vorbei, die beide durch die Urgewalt seiner Schritte niedergeworfen wurden, während er auf der Suche nach dem Schützen mit dem AR-15 eine Reihe von Fahrzeugen plättete. Frank drückte sich vom Straßenbelag hoch, richtete sich auf und streckte dann seinen Schussarm aus, um auf den Rücken des Riesen zu feuern, doch Chia schlug die Pistole hastig herunter. »Quebra lockt ihn von uns weg! Lass ihn!« Der Little One ignorierte tatsächlich sogar Autumn und Caitlin, die sich nunmehr darauf geeinigt hatten, die Flucht zu ergreifen, und am zerstörten Eingang des Krankenhauses angelangt waren. Die anderen mussten schon drinnen sein. Frank hoffte, niemand sei zu Brei in den Asphalt gestampft worden. Die Krater, welche der Little One hinterließ, waren so breit wie Kleinbusse, und zerquetschte Leiber würde man darin nicht einmal erkennen können. Während das Beben noch andauerte, hatten Franks Knochenschmerzen nachgelassen. Der Little One war nun hinter dem Krankenhaus. Quebra hatte gesagt, er würde das Gebäude direkt nebenan auskundschaften, folglich musste er auf dem Dach sein. Dass er den Rachen des Monsters aus dieser Entfernung hatte treffen können, konnte er kaum glauben. Vielleicht war sein Gewehr modifiziert, aber Frank kannte sich mit Waffen nicht wirklich aus; gut möglich, dass Quebra ganz einfach ein richtiger Held war. So oder so: Jetzt war er der Gelackmeierte. Frank sah die Silhouette des Soldaten nun auf dem Dach und konnte die andauernden Schüsse hören. Der Little One würde ihn wegklatschen wie ein Insekt. Frank hatte nicht bezeugt, wie Quebras Waffenbruder Kotz den Gnadentod gestorben war, und sich auch geweigert, bei der notwendigen Amputation des Fußes des Verletzten zu helfen. Als Chias Familie von einer einstürzenden Wand erschlagen worden war, hatte es wenig zu sehen gegeben, kurz bevor Frank von Staub und niederprasselnden Trümmern geblendet worden war. Jetzt aber würde er miterleben, wie Quebra von diesem niedrigen Dach geschmettert wurde, und dies zu sehen verdiente er auch, weil es schließlich seine Schuld war. Frank stand mitten auf der Straße, ohne sich zu rühren, und beobachtete das Ganze in einer Art qualvoller Ohnmacht. Auf einmal rannte von gegenüber Mills auf die Fahrbahn – also von Franks Seite der Straße aus auf gleicher Höhe wie das Parkhaus – und warf etwas auf die Beine des Little Ones, das so dick wie ein Laib Brot war. Als es einen Moment später blitzte, nahm Frank an, Sonnenstrahlen brächen sich an dem Riesen, doch das konnte nicht sein, zumal der Himmel mittlerweile dunkelgrau war. Das Gewitter hatte die Stadt erreicht, und dementsprechend hielt Frank den Knall, der sich dem Gleißen anschloss, für einen Donnerschlag. Diese beiden Irrtümer huschten innerhalb einer Sekunde durch seinen Kopf, bevor ein anderer, geistesgegenwärtiger Teil seines Verstandes erkannte: Das ist eine Bombe! Der Little One kreischte so laut, dass es die Luft zerfetzte. Er trat, nein er torkelte eher, zur Seite und starrte auf den Feuerball an seinem Schenkel. Dann erblickte er Mills. Sie schrie – Gott, hatte sie das je getan? –, sie blieb einfach dastehen und schrie. Vor blankem Entsetzen oder eher aus blankem Trotz? Frank wusste es nicht, aber er vollzog nun mit, dass der Little One nicht lange fackelte, sondern mit einer fürchterlichen Pranke nach unten langte und die Frau so fest drückte, bis sie einfach platzte. Chia zerrte ihn daraufhin auf das Parkhaus zu, von dessen Dach aus Mills die Gruppe zuvor provoziert hatte. Kurz sah Frank Quebra, aber dann versperrten ihm die Betonwände wieder die Sicht. Der Soldat seilte sich gerade von der Seite des Gebäudes ab, das zwar niedrig war, aber dennoch mehrere Stockwerke hoch. So Gott wollte, erreichte er den Boden, bevor der Little One wieder an ihn dachte und sich von der entleibten Frau abwenden würden, die ihm einen Sprengkörper gegen die Beine geworfen hatte. War es eine selbstgebastelte Bombe gewesen? Ob Mills so etwas hinbekommen hätte? Wer weiß? Sie war ihnen letztendlich völlig fremd gewesen, eine Lügnerin und Psychopathin, also könnte sie den Brandsatz eventuell auch für die Gruppe vorgesehen, ihn aber dann doch gegen den Giganten eingesetzt haben. Sie war verrückt, oder sie hatte es eingesehen und so versucht, sich reinzuwaschen. Jetzt ist sie tot; du hast gesehen, wie ihr Kopf über seiner Faust hochgeflogen ist. Hör auf, zu viel nachzudenken, Frank. Brüten ist etwas für Schreiber und Träumer, aber die haben in dieser Welt keine Chance mehr. Sie waren nun im Erdgeschoss des leeren Parkhauses angekommen, und die Decke erzitterte, als der Little One sein Getrampel fortsetzte. Betonstahl, der aus diesem und jenem Loch im Gebäude ragte, geriet in Schwingung und summte dabei wie ein Schwarm zorniger Hornissen. Chia führte Frank in die dunkelste und am schwierigsten zugängliche Ecke und dort kauerten beide nieder. Von dort zu entkommen würde letztendlich wahrscheinlich genauso misslich sein. Frank fiel ein, dass er unbedingt wieder Luft holen musste. Die Erkenntnis des Ganzen machte die Tätigkeit selbst allerdings kein bisschen einfacher. Er hatte mittlerweile das Gefühl, seine Brust klemme in einem Schraubstock. Durch die offene Einfahrt sahen sie den Fuß des Little Ones. Er war verrußt und, wie Frank dachte, vielleicht sogar gerissen, aber die Bombe hatte eigentlich viel weiter oben am Bein gezündet. Eine Wunschvorstellung, alter Junge und zu viel Nachdenken. »Gib doch endlich Ruhe!«, murmelte Frank. Chia sah ihn verdutzt an. »Mein Gehirn«, fügte Frank erklärend hinzu, was zu genügen schien. Inmitten einer solchen Krise; eines so traumatischen Erlebnisses, wenn alles zäh wie in Zeitlupe oder schwindelerregend schnell ablief, war jeder Mensch, hin- und hergerissen, vermutete Frank. In seinem Fall hießen die beiden Pole Instinkt und Einbildungskraft. Er vertrat die Ansicht, beide können Leben retten, doch vielleicht stimmte es auch, dass Ersterer vermutlich das Ruder übernahm, wenn man von einem Riesenmonster gejagt wurde. Vielleicht. Der Fuß des Little Ones war verschwunden, und sowohl der Lärm als auch die Erdstöße infolge seiner Schritte wurden langsam schwächer. Draußen plätscherten erste Regentropfen auf die Straße. »Er sucht noch immer nach uns, anders kann ich es mir nicht vorstellen«, behauptete Chia. »Er wird zurückkommen und jedes Gebäude in diesem Block einreißen. Wir müssen irgendwie zu den anderen.« »Mag sein, dass er sich vielleicht auch einfach verzieht«, erwog Frank. »Der von damals hat Josie und Bryan auch verzögert umgebracht«, beharrte Chia, der jetzt richtiggehend böse war. »Er hätte es nicht tun müssen, und ihm war nicht bewusst, dass sie hinter der Mauer warteten.« Frank nickte nur. »Okay, Chia.« Er konnte jetzt endlich wieder unbeschwerter atmen, aber nicht, dass ihn der Alte danach gefragt hätte. Die beiden kehrten zum Eingang zurück, um hinaus auf die Straße zu schauen, und spähten in die Richtung, welche der Little One eingeschlagen hatte. Von ihm selbst war nichts mehr zu sehen, aber das schloss nicht aus, dass Chia womöglich doch recht hatte. Wie gut, dass das Unwetter die Stadt verdunkelte, denn Frank war deutlich wohler dabei zumute, durch Schatten und Regen zu ziehen, während sie zum Krankenhaus vorstießen. Als sie näherkamen, rief jemand leise: »Hier drüben!« Es war Autumn. Sie stand unter dem Wellblechdach der Haltebucht vor der Notaufnahme und winkte den beiden zu. Nachdem sie zu ihr gelaufen waren, betraten sie die düstere, muffige Ruine der Klinik. Der Regen draußen trommelte wie verrückt. Autumn brachte sie in ein Voruntersuchungszimmer, in dem keine Betriebsmittel mehr lagen – sogar die Schranktüren fehlten –, und dort fanden sie alle anderen, auch Quebra. Er sah allerdings ziemlich fertig aus. »Hey«, grüßte ihn Frank. »Danke.« Der Soldat nickte und schlug sich mit einer Faust gegen die Brust. »Ich brauche Wasser.« »Draußen gibt es ganz viel«, entgegnete Duckie ernst. Daraufhin lachte und hustete Quebra gleichzeitig. »Ganz richtig, Mann.« Als er aufstehen wollte, gebot ihm Autumn Einhalt. »Bleib sitzen«, ermahnte sie ihn. »O’Brien, hilf mir doch bitte mal beim Suchen, wir brauchen etwas, um das Regenwasser zu sammeln. Danach gehen wir wieder raus. Duckie, du auch.« Frank und Chia ließen sich auf dem Fußboden nieder. Dodger neigte sich zu ihnen hinüber. »Diese Schlampe.« Frank dachte, er beziehe sich auf Autumn und wollte ihn schon im Genick packen, als ihm dämmerte, dass Dodger Mills damit meinte. »Diese Schlampe«, wiederholte der junge Mann. »Sie wollte uns in die Luft jagen, aber stattdessen hat sie den Knallfrosch auf das Monster geschmissen. Selten dämlich.« »Was auch immer sie tun wollte: Sie hat Frank und mich dadurch gerettet«, hielt Chia dagegen, »vielleicht sogar uns alle.« »Das konntest du aber nicht vorhersehen. Du hast sie am Leben gelassen, und sie hätte uns alle töten können.« Chia lehnte sich zur Seite, bis kein Platz mehr zwischen Dodger und ihm war. Während er seine Stirn an die des Jüngeren drückte, erwiderte er leise und kehlig wispernd: »Wir alle haben sie am Leben gelassen. Du hättest sie selbst töten können, Mr. Hinterher, Mr. Vorbedacht. Vielleicht dachtest du ja, wir würden es nicht zulassen, hast es aber auch nicht einmal vorgeschlagen – nicht dort auf dem Freeway –, sondern erst jetzt, wo sie schon tot ist, gibst du etwas Schlaues zum Besten. Aber lass dir gesagt sein: Es ist nicht schlau, sondern einfach nur idiotisch.« Chia zog sich wieder zurück und wischte sich mit einem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Dodger verharrte ungläubig und suchte Franks Blick. »Was ist?«, fragte dieser in einem ruhigen Tonfall. Nun setzte sich auch Dodger wieder gerade hin und schwieg. *** Ein paar Stunden später hörte der Regen auf. Der aufgefangene Niederschlag brachte einen asche- und gummiartigen Nachgeschmack mit sich, tat aber trotzdem gut. Autumn, O’Brien und Duckie hatten jeden verfügbaren Behälter damit gefüllt. Frank kam nun endlich dazu, sich den Dreck aus den Haaren zu spülen und die schmutzigsten Stellen an seinem Körper zu waschen. Als das Wasser aufgebraucht war, konnte er sich beileibe nicht als sauber bezeichnen, fühlte sich aber wenigstens erfrischt. Hinterher begab er sich mit Quebra hinaus in die Sonne. Von Mills fanden sie nicht mehr viel. Sie entdeckten ein Schuh, in dem ein Fuß steckte, aber es war eben nur ein Schuh. Quebra stieß eine rote Masse an und kam zu dem Schluss, es sei vielleicht ein Bein, doch dann entdeckten sie den Schädel – ihren blauroten, starrenden Kopf, der einfach so im Rinnstein lag. »Begraben wir sie«, schlug Frank vor. »Warum?«, fragte Caitlin, die ihnen gefolgt war. Als er sich umdrehte, betrachtete sie argwöhnisch den abgetrennten Kopf. Autumn stand am Vordereingang des Krankenhauses, sah sich aber nicht bemüßigt, ihre Schwester zurückzuholen. »Sie wollte uns umbringen, richtig?«, fragte Caitlin. »Ich meine, selbst wenn nicht, hat sie uns immerhin vorher all diese Lügen erzählt. Sie war ein schlechter Mensch.« »Schlecht.« Frank ließ sich das Wort durch den Kopf gehen, während Quebra den Klappspaten aus seinem Rucksack öffnete. »Mag sein. Ich weiß es nicht.« Schließlich erklärte er Caitlin: »Es geht nicht um sie. Leben hat einen Wert. Ich kann sie nicht einfach so liegenlassen. Sieh sie dir an.« Mit sie meinte er Mills’ Kopf, und den starrte Caitlin nun mehrere Augenblicke lang schweigend an. Dann blickte sie zu Frank hinüber. »Glaubst du das wirklich, oder willst du mir nur eine Lektion erteilen?« Er lächelte. »Gott, bist du zynisch.« »Ich bin neunzehn Jahre alt!« Natürlich, Neunzehnjährige dachten, sie wüssten alles. Sie hatten erfahren, dass die Welt beschissen war und der Weihnachtsmann nicht existierte ... dass ihre Eltern schon als Minderjährige Erfahrungen mit Alkohol gemacht hatten und alles von hier bis zum Nordpol so lala war. Die Welt jetzt, also nach dem Höllengänger und dem Kollaps, musste Teenager zwangsläufig in ihrem naiven Zynismus bestärken. »Ich verstehe«, entgegnete Frank. »Das tue ich wirklich, aber … Gut, es könnte sein, dass ich dir eine Lektion erteilen will, ja. Die lautet, dass du, falls du dich nicht immer noch an eine jener dummen, rosaroten Vorstellungen vom Wert des Lebens klammerst, einen Scheißdreck hast. Schließlich besitzen wir kein Geld mehr, nicht wahr? Oder materielle Güter. Alles, was uns noch bleibt, ist das Hier und Jetzt, und Selbst das nur unter Vorbehalt. Deshalb begraben wir Mills, deshalb denken wir darüber nach, was das alles bedeutet, und haben ...« »... etwas zu tun?«, ergänzte das Mädchen. Es war die richtige Antwort – nicht einen Grund zum Weiterleben, wie Frank fast gesagt hätte. Ein wenig gesunder Zynismus hatte durchaus etwas für sich. Er nickte ihr zu. »Wirst du Quebra nun helfen?« Sie tat es. Die ganze Gruppe stellte sich um das winzige Grab herum auf, während der Soldat die Erde mit seinem Spaten festklopfte, ehe sie einen Moment lang still blieben, weil niemand etwas Gescheites zu sagen wusste. Dann spuckte Dodger auf das Grab, womit die Lektion vorzeitig beendet war, und sie zogen weiter. Kapitel 3 Mills hatte die Faust des Little Ones schätzungsweise nicht einmal halb ausgefüllt. Herrgott, das Gebäude, von dem Quebra auf ihn geschossen hatte, war nur so hoch wie die Unterschenkel des Geschöpfs. Es hatte sie absichtlich so vom Boden gepflückt, dass ihr Kopf noch zu sehen gewesen war und abplatzen konnte. Das glaubte Frank ganz sicher. Wieso wurde die Welt nur so bestraft? Er ging davon aus, dass es wahrscheinlich zehntausend unterschiedliche Erklärungen religiöser Art gab, doch die meisten frommen Großvereine hatten sich schon vor langer Zeit selbst den Garaus gemacht. Jetzt gab es nur noch Kulte, die unter anderem für Christus, Allah oder Buddha einstehen wollten, Frank aber bisher allesamt wie ein Haufen wahnhafter Irrer vorgekommen waren. Sie traten unter den gestörten Nomadenbanden auf, deren Wege Chia und er auf ihrer Wanderschaft zwangsläufig gekreuzt hatten. Ohne die Anmut und Staffage der gefallenen Weltkirchen wirkten diese Männlein und Weiblein allerdings wie bloße Straßenprediger. Frank vermutete, die frühen Propheten seien recht ähnlich wahrgenommen worden, nur dass diese Meere hatten teilen können; darin bestand der Unterschied. Er hätte sich jeder Vereinigung angeschlossen, deren Anführer Wasser in Wein verwandeln konnte, das musste er aber erst noch erleben. Sie und ihre törichten Erklärungen einmal ausgeklammert: Weshalb wurde die Welt bestraft? Denn das wurde sie wirklich, so viel stand fest. Frank war von jeher Atheist, doch dass alledem etwas verdammt Grausames innewohnte, ließ sich nicht in Abrede stellen. »Kommen wir auf deinen Anfall von vorhin zu sprechen«, sagte Chia zu ihm, womit er Franks trübseligen Tagtraum störte. »In dem Van.« »Ich bin einfach ohnmächtig geworden«, rechtfertigte sich Frank. »Mein Kreislauf. Du weißt ja, was mit mir los ist.« Dennoch blieb Fakt, dass sein Traum ausgesprochen anschaulich gewesen war und äußerst seltsam dazu, und dass Frank rückblickend das Gefühl hatte, er sei dabei die ganze Zeit über wach gewesen. Eine Halluzination, hervorgerufen durch … wodurch? Sauerstoffmangel? So gravierend, dass er die Graue Frau gesehen hatte, aber andererseits doch nicht bewusstlos geworden war? »Pass auf«, entgegnete er Chia, während er seine Stimme gedämpft hielt. Die beiden gingen hinter der Gruppe her, und einige hatten die Worte, die Frank nun loswerden wollte, zwar schon einmal gehört, aber er äußerte sie trotzdem gern mit Bedacht. »Chia, du weißt, ich möchte, dass du mich verlässt, falls ich eines Tages zur Belastung werde.« »Und du weißt, dass das nicht infrage kommt.« »Aber dann sterben wir beide. Was bringt das denn?« Sie würden unter dem breiten Plattfuß eines Little Ones zu einem einzigen Brei zermalmt, und niemand könnte danach mehr erkennen, dass sie einmal zwei gesonderte Menschen gewesen waren. »Ich weiß, Frank. Ich weiß, dass ich unvernünftiges Zeug treibe, indem ich beispielsweise versuche, dir ständig den Arsch zu retten, aber die kleine Rede, die du vor dem Mädchen gehalten hast, ist bei mir hängengeblieben – das mit dem Wert des Lebens.« »Mein eigenes meinte ich damit nicht«, entgegnete Frank kaltschnäuzig. »Ich trage eine rosarote Brille, Frankie. Durch sie werden Blutspritzer zu Ölflecken. Sie verwandelt einen Sonnenuntergang in ein Gemälde der großen Meister. Sie verleiht deinem beschissenen Leben eine Bedeutung!« »Ich hasse dich«, nuschelte Frank aus einem Mundwinkel, während er sich bemühte, ein Lächeln zu unterdrücken. »Weiß ich«, erwiderte Chia und ging voraus. Nettigkeiten klangen in diesen Tagen wie nichts dergleichen, waren aber womöglich so innig gemeint wie nie zuvor. »Also, wohin geht unsere Reise denn am Ende?«, fragte O’Brien. »Schwebt jemandem ein spezifischer Ort vor?« Quebra schaute Chia an. »Dorthin, wo wir gewesen sind? Vor Mills?« »Wir können nicht zurück«, erklärte der Alte gleichmütig. »Und auch sonst nirgendwohin.« »Der Höllengänger steht im Nordosten«, sagte Frank, wusste aber nicht so recht, wieso. »Fünfhundert Meilen weit weg«, schob er hinterher. »Oder einen Steinwurf; verstehst du das unter einem Steinwurf, Quebra?« Der Soldat antwortete zunächst nicht, sondern starrte Frank nur merkwürdig an. Dann hakte er nach: »Der Höllengänger steht fünfhundert Meilen weit weg im Nordosten ... und?« »Ich weiß nicht«, fuhr Frank fort. »Als die Little Ones aus ihm kamen, verbreiteten sie sich in alle Himmelsrichtungen. Ich dachte nur, in dieser Richtung sei es vielleicht sicherer, näher hin zu der Stelle, an der sie ausgeschwärmt sind.« Quebra blinzelte und wischte sich einen Schweißfilm aus dem Gesicht. Frank sah sich versucht, dem Soldaten anzubieten, seinen Rucksack zu tragen, ahnte aber irgendwie, dass der Mann sich im Moment nicht darauf einlassen würde. »Der Höllengänger hat sich, wie lange nicht mehr bewegt? Seit dem Zusammenbruch?«, fragte Quebra. »Richtig.« »Frank, was verleitet dich zu der Annahme, er könne nicht morgen plötzlich aufwachen und wieder in die Gänge kommen?« Quebra erhob seine Stimme. »Darf ich dich daran erinnern, dass wir erst vor ein paar Stunden erlebt haben, wie ein ‘schlafender’ Little One aufstand und Mills zerdrückte? Das Gleiche hätte er auch fast mit dir getan, mein Freund. Geht es dir noch gut?« Er dachte, Frank drehe nach dem Vorfall am Morgen langsam durch. Konnte man es ihm aber andererseits verübeln? »War ja nur so eine Idee«, entschuldigte sich Frank nun. »Ich dachte, wir sollten einfach mal Vorschläge in die Runde werfen.« »Vernünftige Vorschläge!«, betonte Dodger. »Ich würde sagen, wir gehen nach Südwesten, also in die entgegengesetzte Richtung. Auf der Karte runter ist immer gut.« »Spielt es denn überhaupt eine Rolle?«, fragte Autumn. »Jawohl, das tut es«, bekräftigte Dodger. »Dass man sich mit manchen Strecken wirklich keinen Gefallen tut, ist doch wohl bekannt. Andere sind da wesentlich aussichtsreicher – wenigstens insofern, dass sie nicht nach Chicago führen. Kapiert?« »Warum spuckst du mir gegenüber nie so große Töne, Dodgman?«, stichelte Quebra, der sich sein Gewehr nun auf eine Schulter gelegt hatte. Dodger blickte reichlich angesäuert, sagte aber nichts mehr. »Fick dich, Dodger«, ätzte Autumn. Das brachte ihn wieder in Fahrt. »Ach, wirklich?«, echauffierte er sich. »Ihr alle wünscht euch, dass ich abhaue? Ihr wollt mich verstoßen? Wäre schließlich nicht das erste Mal mich. Ich komme auch sehr gut allein klar, versuche aber trotzdem, euch zu helfen.« »Du versuchst gar nichts«, brummte Chia, »und darüber haben wir uns schon unterhalten. Treib es nicht zu weit.« Frank hockte derweil am Straßenrand und zog eine kleine Feldflasche von seinem Gürtel. Es war ein rotes Ding aus Plastik mit dem verblassten Aufdruck eines Ninjas, Campingspielzeug für Kinder. Nachdem er einen Schluck Regenwasser daraus getrunken hatte, schloss er seine Augen. Achtzehn Jahre lag der Weltuntergang nun schon zurück; achtzehn Jahre und er dauerte immer noch an. Begonnen hatte es mit außergewöhnlich heftigen Stürmen rund um den Globus. Man war gar nicht dazu gekommen, jedem einen Namen zu geben, zumindest soweit sich Frank noch daran erinnerte. Die Wissenschaft hatte sich vielmehr um die anormalen Bewegungen der Winde gesorgt. Sie waren den Gesetzen der Natur selbst zuwidergelaufen und nordwärts gerauscht, und jeder hatte in seinem Sog eine schreckliche Verwüstung hinterlassen. Frank wusste noch, dass es insgesamt siebenundzwanzig gewesen waren, viele davon mit Ausläufern in Form von Hurrikans oder Tornados, die Stadt- und Landgebiete verheert hatten. Jeder Ort war zu einem potenziellen Katastrophengebiet geworden. Die Regierungen hatten höchste Alarmbereitschaft ausgerufen und waren rasch dazu übergegangen, Schuldige zu bestimmen, genauso wie die Religionen. Während die Hauptstädte gefallen, und Wind und Wasser gewütet hatten, war jede Erklärung recht gewesen, angefangen bei Sünden über geheime Technologien bis hin zu Außerirdischen. Jedermann hatte es sich einfach gemacht, seinen jeweiligen Erzfeind zu verleumden. Unterdessen waren die Stürme nicht abgeflaut, sondern hatten sowohl Flugzeuge als auch Gebäude niedergerissen und sich schließlich in der Arktis unmittelbar nördlich von Grönland vereint. Genau über dem Litketief waren sie zusammengestoßen, einem Meerestief im Eurasischen Becken, dessen Bett dreieinhalb Meilen unter der Wasseroberfläche liegt. Es gibt tiefere auf dem Planeten, doch da dieser keine perfekte runde Kugel ist, reicht es näher an den Erdkern als alle anderen. Dies war für Frank seit jeher eine interessante Fußnote, ergab aber nach wie vor überhaupt keinen Sinn. Die Wirbel hatten sich dort zu einem »Ultrasturm« vereint – so der geprägte Begriff –, einer monolithischen Wand aus Wind und Schnee, die fast bis in die Exosphäre gestoben war. Sie hatte Satelliten aus ihren Bahnen geworfen und so ganz allmählich das globale Kommunikationsnetz lahmgelegt – schlecht für die weltlichen und geistigen Führer an der Schwelle zu einem Krieg, schlecht auch für die aufgekratzten Bevölkerungen kurz vor den sogenannten »Bürgerunruhen«. Man hatte die Höhe des Ultrasturms auf vierhundert Meilen geschätzt, erneut ein Widerspruch gegen alles Natürliche. Prediger hatten dies als Beweis dafür erachtet, dass die Forschung schon immer falschgelegen habe. Die Forscher wiederum hatten um Zeit gebeten, um sich einen Reim darauf machen zu können und die Herrschenden auf der Welt davon abzuhalten, den Roten Knopf zu drücken. Für den Sturm war das alles einerlei gewesen. Einen höllischen Monat lang hatte er getobt, während die Menschen in ihren Häusern, vor ihren Fernsehern, Tablets und Handys geblieben waren, bis ihr Empfang nach und nach ausgesetzt hatte. An dem Tag, als der Sturm endlich abgeklungen war, hatte man noch einige aktuelle Berichte abrufen können, genauer gesagt waren viele Betreiber, sobald sich der Himmel gelichtet hatte, wieder ans Netz gegangen, wenn auch nur vorübergehend. An jenem Tag, als sich die Arktis beruhigt und der Himmel begonnen hatte, blau durch den weißen Wall zu schimmern, war es einigen Menschen bessergegangen ... besser im Sinne von: Jetzt wird alles wieder gut. Es schien so, als gäbe es bald Antworten und man könne dann etwas bauen oder eine Resolution verabschieden, um zu verhindern, dass so etwas je wieder geschah, woraufhin alle wieder ihren normalen Alltag hätten aufnehmen dürfen. Aber dann sahen wir, was sich hinter den Wolken verbarg. Sieben Meilen hoch, sein Körper, wie es aussah, bedeckt mit Platten aus Obsidian oder Metall. Es erinnerte an eine gepanzerte Echse aus einem Kinderbuch über prähistorische Tiere, nur dass dieses Ding nicht irdisch war. Das wusste jeder sofort. Es stand mitten im Litketief, weshalb die Welt zunächst nur die Hälfte von ihm sah. Dann allerdings fing es an, herauszusteigen. Die Tsunamis entstanden prompt und blieben in der dokumentierten Geschichte ohne Beispiel. Man hatte keine Zeit – nicht einmal als Beobachter auf der anderen Seite der Welt –, um sich auf die apokalyptischen Flutwellen vorzubereiten. Eine Stunde nach dem Ende des Sturmes waren komplette Städte bereits versunken. Hunderttausende hatten während der ersten Minuten den Tod gefunden, und dabei war dies erst der Anfang gewesen. Der Höllengänger. Er trampelte auf dem Ozeanboden der Arktis herum, und jeder Tritt löste Erdstöße aus, die sich über die gesamte Nordhalbkugel fortpflanzten. Seine Bewegungen waren schwerfällig träge, weshalb er Tage brauchte, um der Tiefe zu entsteigen. Mit jedem Tag wurde er größer und größer, bis sich sein Kopf – ein undefinierbares Etwas, geformt wie eine kosmische Pfeilspitze – in den gewöhnlichen Wolken verlor. Er war so hoch wie die Troposphäre der Erde, und die Zahl der Todesopfer stieg mit jeder kleinsten Bewegung, die er vollzog. Aus Hunderttausenden wurden rasch Millionen. Als er Grönland erreichte, verließ er das Meer. Das Land war innerhalb weniger Tage ausgelöscht – vollkommen, alle waren tot. Alles in allem brauchte das Monster vierzehn Jahre, um bis nach Chicago zu gelangen, und jeder Tag während dieser Zeit bedeutete für sich genommen schon ein Armageddon. Der Höllengänger war so massiv und bewegte sich so langsam, dass viele behaupteten, dass er existiere, sei schlichtweg unmöglich. Sie zeigten direkt auf ihn, wenn er über Mattscheiben flimmerte, und sagten, er sei bestimmt nur ein Hologramm zur Verschleierung einer Wettermaschine, die von den USA, China oder beiden zusammen gebaut worden sei. Was Israel und den Iran betraf, ist es bis heute unklar geblieben, wessen Atomschlag zuerst erfolgte. Fest steht nur, dass keine Nation für diese oder jene Seite intervenierte. Nordkorea zerbombte sich selbst; Russland richtete seine Waffen auf alle Welt und verlangte, in Ruhe gelassen zu werden. Die Vereinigten Staaten und Kanada mussten währenddessen ein ganz anderes Problem bewältigen: Der Höllengänger nahte! Weder Raketenangriffe noch Aufklärungsdrohnen hatten etwas bewirkt, weil das Wesen ein unheimlich weites Elektromagnetfeld streute. Am Grund des nördlichen Polarmeers verstreut lagen unzählige funktionsgestörte Sprengköpfe, nur sehr wenige schlugen verbindlich bestätigt überhaupt irgendwo ein. Am kohlrabenschwarzen Äußeren des Höllengängers deutete nichts auf Schäden hin. Eine Koalition von zweiundfünfzig Nationen einigte sich schließlich auf einen neuen Plan, dieses Mal auf eine Truppenbewegung hinaus zu dem Ding – auf das Ding zu genauer gesagt, um es anzubohren und mit Sprengstoff zu spicken. Dabei hoffte man, eine der Platten an dem Monster lockern oder gar lösen zu können, damit sich etwas Verwundbares darunter offenbarte. Das Vorhaben gelang allerdings nur zur Hälfte. Nur sehr wenige Funkrufe der Soldaten, die am rechten Bein des Höllengängers hinaufkletterten, waren überhaupt verständlich. Denn ihre Geräte verweigerten schon nach kurzer Zeit den Dienst. Der denkwürdigste Übertragungsfetzen wurde einem Briten namens John Carlson zugewiesen und las sich: »Gott, ist das heiß … wie Lava statt Blut … für uns ist alles zu spät.« Bis etwas passierte, vergingen Wochen, und wenngleich man verrauschte Satellitenbilder empfing, welche die Männer beim Aufsteigen in den Rillen und Spalten an dem Monster zeigten – eine Einstellung, in der sie sich an der Kante einer Platte unruhig im Schlaf wälzten, schaffte es auf die Titelseiten aller verbliebenen Presseerzeugnisse –, galt ihre Mission als gescheitertes Unterfangen. Ihr Roboterbohrer gelangte tatsächlich unter den Rand einer schroffen Kniescheibe und stieß dahinter sehr wohl auf etwas Weicheres, aber falls es den Soldaten gelungen war, der Koalition irgendwelche Informationen zu senden, wurden diese nie veröffentlicht. Bekannt war nur, dass die Männer sich bald hektisch abseilten und plötzlich in den Tod sprangen. Als sich die Little Ones zum ersten Mal zeigten, hatten sie Flügel. Sie stiegen direkt aus dem Höllengänger auf und schwärmten in alle Winde aus, wie Frank bereits erzählt hatte. Dabei bewegten sie sich viel schneller als ihr … ihre Mutter? Ihr Mutterschiff? Niemand wusste es so genau. Flieger wurden daraufhin zusammengetrommelt und Raketen abgefeuert. Das alles ging ganze sieben Jahre nach dem Erscheinen des Höllengängers auf der Erde vonstatten. Einige Menschen – nein, um die Wahrheit zu sagen, die meisten, Frank eingeschlossen – versuchten fortwährend, ein halbwegs normales Leben zu führen. Aber der Osten Kanadas war weitgehend verlassen, und ein großer Teil der Nordstaaten der USA waren ebenfalls Geisterstädte. Es gab Tage, da galten die Schlagzeilen nicht dem mühseligen Fortschritt des Höllengängers, sondern der Störung und den Kosten, die die Flüchtlinge verursachten. Ein paar Little Ones wurden im Flug über den Globus abgeschossen. Dutzende weitere erreichten allerdings ihre Zielorte, wesentliche Städte weltweit, wo sie ihre eigentümlich knochigen Schwingen abstießen und sofort anfingen, ihr Werk zu verrichten. Weitere sieben Jahre sollten vergehen, ehe die Regierung der Vereinigten Staaten gemeinsam mit den meisten anderen fiel. Sieben Jahre, in denen Monster durch manche Städte tollten, wohingegen sich die Menschen in anderen weiterhin täglich zur Arbeit quälten. Sieben Jahre dankbare Beschäftigung für Nachrichtensprecher. Während jener Phase wurden sogar Spielfilme gedreht. Zum überwiegenden Teil handelte es sich dabei um schrille, überzeichnete Reißer zum Heben der Gemüter, praktisch die Stooges auf LSD. Eines der weltgrößten Studios verlagerte sich auf die Produktion und den Vertrieb von Pornografie. Dokumentationen entstanden selbstverständlich auch, mit Wissenschaftlern und Weisen, die vorgaben, den Albtraum beenden zu können, wenn die Menschen doch nur auf sie hören würden. Das tat allerdings niemand, zumal sie ja sowieso logen. Die letzte Präsidentenwahl in Amerika ging über die Bühne, kurz bevor ein paar Little Ones in Washington einfielen, im Grunde genommen der Sargnagel für die Regierung. Tatsächlich kristallisierte sich noch ein neues Oberhaupt heraus, ein Kerl namens McAvoy, wobei die Wahlbeteiligung selbst für US-Verhältnisse wirklich armselig ausfiel. Der Mann war verrückt, genauso wie der Großteil seiner Befürworter. Zum Glück wurde er nie vereidigt, obwohl: Verdammt, wenn er das Land wollte, könnte er es jetzt gern haben. Ungefähr zur gleichen Zeit trat der Höllengänger aus dem Michigansee auf einen großen Teil von Chicago und blieb dort einfach stehen. Die wüsten Stürme und Beben, die jede seiner Zuckungen begleitet hatten, hörten dementsprechend auf. Seitdem bewegte sich der Gigant nicht mehr. Sein Kopf ragte immer noch über die Wolken hinaus, und der Körper war gerade aufgerichtet, aber er rührte sich nicht. Wie er es überhaupt geschafft hatte, sich voranzuschleppen, geschweige denn, wie er so senkrecht stehen konnte, war nach wie vor ein Rätsel, physikalisch so unmöglich wie die Wirbelwinde zuvor. Soweit das jetzt überhaupt noch etwas ausmachte, könnte es nur durch Zauberhand möglich gewesen sein. Die zivilisierte Welt war nicht mehr, und die Little Ones setzten ihre Jagd nach Restposten fort. Dreieinhalb Jahre später schraubte Frank nun den Deckel der Kindertrinkflasche wieder zu und hängte sie an eine Gürtelschlaufe seiner Jeans. Dann stand er auf und dehnte seine Arme im Versuch, die unsäglichen Gelenkschmerzen loszuwerden, dies verschlimmerte das Ganze aber eigentlich nur. Er seufzte. »Sind wir schon zu einem Schluss gekommen?« »Mir persönlich gefällt die Golfküste besser als der Westen«, sagte Quebra. »Warum nicht Florida? Es ist noch da«, warf Chia ein und schnippte mit den Fingern. »Wie wäre es mit den Keys? Stellt euch bloß vor, wir könnten ein Boot und dann eine Insel finden.« »Ich bin mir sicher, den gleichen Gedanken hatten auch viele andere Leute«, entgegnete Autumn. »Wir haben damals auch mit der Idee gespielt.« »Gut, aber die meisten Überlebenden schaffen es wahrscheinlich nicht«, beharrte Chia. Er erkannte eine Sekunde zu spät, dass die Eltern der beiden Mädchen wohl dazugehört hatten, und machte ein langes Gesicht. »Eine Insel«, seufzte Caitlin. »Mir egal, wo sie liegt, solange es dort warm ist. Eine Insel.« Dodger ging kommentarlos auf und ab, wobei er sich bestimmt ausmalte, Bürgermeister der besagten Insel zu sein ... ein Leben voller Blumenhalsketten, Alkohol und gebräunter Brüste ... oder war dies eher Franks Fantasie? Immerhin war er derjenige, der es gerade dachte, und die Vorstellung von Frauen führte ihn automatisch zu Nan. Scheiße! Sein schlimmster Anfall hatte ihn vier Jahre zuvor ereilt, und damals war Nan noch am Leben gewesen. Die beiden hatten zusammen in einem Appartement gewohnt, und Franks Arzt, ein unglaublicher Mann, der mit seinen Sprechstunden einfach fortgefahren war, bis irgendein Verrückter seine Praxis mit einem Raketenwerfer hochgejagt hatte, hatte ihm nahegelegt, es sei an der Zeit, »Vorkehrungen« zu treffen. Damit gemeint waren letzte Vorkehrungen. Denn Frank litt unter einem Herzklappenfehler, und eine Operation würde es wohl in naher Zukunft nicht geben. Deshalb war er nach Hause gegangen und hatte Nan gesagt, er werde sterben. Sie hatte mit ihm auf der Couch gesessen und ihm tief in die Augen geschaut – darauf gewartet, dass er weinte, das wusste er, aber so weit war es nicht gekommen, also hatte sie schließlich gefragt: »Und was sollen wir jetzt tun?« Nan mit ihrem krausen, braunen Haar, ihren goldig leuchtenden Augen und ihrem verdammten, unnützen Optimismus … Ständig tun. Was sollen wir tun? »Wir?«, hatte Frank trocken erwidert. »Dann eben: Was wirst du tun?« »Ich weiß nicht, was du meinst.« Es war ihm sehr wohl klar gewesen, hatte ihn aber schlicht und einfach wütend gemacht. »Du meinst, meinen Job kündigen, diese Wohnung aufgeben und mich mit dem Rucksack in die weite Welt aufmachen? Du meinst einen angenehmen Tod in irgendeinem griechischen Fischerdorf sterben, bei Sonnenuntergang und umringt von bescheuerten Katzen? Nancy, ich habe keinen Plan, ich werde sterben – genau das werde ich tun.« »Frank ...« »Nein, hör jetzt bitte auf. Du kannst es nicht wissen und hast übrigens genauso wenig einen Plan.« »Okay«, hatte sie erwidert und sich von ihm abgewandt. »Du bist aufgebracht, das verstehe ich.« Da war er endgültig aufgebraust. »Wie kannst du es verstehen, wenn ich es selbst nicht einmal verstehe?« Die Wände des größtenteils leeren Appartements hatten die Frage seltsam widerhallen lassen. Nan war dabei zusammengezuckt und er hatte sich sofort beschissen gefühlt. »Du weinst.« Ihm war aufgefallen, dass sie die Nase hochzog. Ohne sich umzudrehen, hatte Nan entgegnet: »Deinetwegen, nicht meinetwegen.« »Du solltest aber um deinetwillen weinen, immerhin bist du diejenige, die zu meiner Beerdigung gehen muss und so.« Der bockig infantile Tonfall, in dem Frank das und so gesagt hatte, hatte ihn innehalten lassen. Daraufhin war er in Gelächter ausgebrochen. Schließlich hatte sie sich ihm wieder zugewandt. »Wie kannst du dabei nur lachen?« »Tut mir leid«, hatte er geröchelt – und war zusammengebrochen. Er hatte sehr lange, vielleicht bis nach Einbruch der Dunkelheit, in ihren Armen geweint. Frank war weiter mit der defekten Herzklappe klargekommen und noch heute am Leben, sogar nach einer Begegnung mit einem Little One. Nan hingegen lebte nicht mehr, und zwar wegen irgendeines Arschlochs in einem Lieferwagen. Also ja, vielleicht war Frank leicht aufgewühlt, leicht sonderbar, leicht leichtsinnig mit seiner Idee, nach Nordosten zu marschieren. »Ich mag Inseln«, sagte er lapidar. Конец ознакомительного фрагмента. Текст предоставлен ООО «ЛитРес». Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию (https://www.litres.ru/david-dunwoody/hell-walks-der-hollentrip-66256129/?lfrom=196351992) на ЛитРес. Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.