Nadelherz Rose Zaddach Eine Prozessakte. Eine Liebesgeschichte, die einen Skandal überdauert. Eine Familie, die daran zerbricht und eine Journalistin, die darüber berichtet und dabei die Liebe zu ihrem Kind neu entdeckt, diese Ereignisse werden aus dem unterschiedlichen Blickwinkel der Protagonisten erzählt. Die Autorin Rose Zaddach hat einen spannenden, rechtskritischen Roman geschrieben und eine Sprache gefunden, die das ewige Thema Liebe und ihre Verstrickungen zum Klingen bringt wie ein portugiesischer Fado. Rose Zaddach NADELHERZ Roman Engelsdorfer Verlag Leipzig 2018 Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de (http://www.dnb.de) abrufbar. Copyright (2018) Engelsdorfer Verlag Leipzig Alle Rechte bei der Autorin Titelbild: Ariane Boss „Iris“ 100 x 200 cm Öl auf Leinwand 2004 Fotograf Copyright Eric Tschernow Covergestaltung: Thomas Rupp Hergestellt in Leipzig, Germany (EU) E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018 www.engelsdorfer-verlag.de (http://www.engelsdorfer-verlag.de) Nichts zu fühlen,was für eine Verschwendung! Aus „Call me by your name“ von André Aciman NADELHERZ Mein Herz voller Nadeln ein Nadelkissen ist mein Herz, hat gehofft und geliebt und sich verschenkt doch du hast es verraten. Die Luft ist blau, die Sonne brennt, aber mehr noch spüre ich das Stechen deiner Nadeln. Auch ich habe Nadeln in dein Herz gepflanzt aber nicht gewusst, wie weh es tut, ich war jung, ich war dumm, ich habe absolut nicht nachgedacht, doch ist auch dein Herz voller Nadeln. Die Luft ist blau, die Sonne leuchtet, Atem beruhige dich, mein Herz, leuchte, auch wenn du niemals schlagen wirst wie einst, wirst du wach und kräftig sein und stark. Fado: Rose Zaddach Inhaltsverzeichnis Cover (#u4abf1256-5b6c-595b-ac2f-1a0132c36d5a) Titel (#u805eda73-3689-5911-89ba-03e41b4e4f7c) Impressum (#u6b712cd3-2bb7-5b46-81fd-37ed5cc6094d) Nadelherz (#ufe2cfc15-7932-56ad-8f4d-fa784a9ac576) Prolog (#ub8a20ae3-7018-5265-91eb-2fb8bc255c9c) Fado (#u99c2c8c9-1682-514d-8965-b2790d0e1464) Ich vergesse nie (#uf1b58c84-6457-5be7-8b30-fa3df23514e6) Das Bildnis (#u8da99335-3de7-56d0-9545-561427f5e34d) Kindheit (#u62bbcb87-a249-5c90-a307-ed592968aa8b) Die Begegnung (#ue46f9dc1-3c85-5dbb-b076-efa010ffee17) Liebeserwachen (#u93cbaf84-731a-526b-abe3-27b0bf0521af) Die Prüfung (#ud7f9fc9d-0a12-5b49-b4af-50888a8dff97) Die Flucht (#uaea53316-3cc1-5a9f-a0bc-afbfd8516a8a) Unbeirrbar (#u60cac7c5-ba1a-578d-97df-da2ec45c14bd) Die Rückkehr (#u52799c3f-6c52-5641-88ef-4d8f2cb0a404) Wartezeit (#u61d5bf45-c2d7-5c7a-8e26-cb5d286ff688) Gefühle (#u85c32e68-db86-5f86-a67d-e820047feb07) Das Liebesverhältnis (#uba2dd060-4046-538a-bb1e-23a85bd2d676) Die Kerze im Fenster (#u931d9d2d-57cb-5145-b79d-9f6ce24a74b9) Das Leben geht seinen Gang (#u1afe07c8-7d4b-5aa8-82dc-090192092e5a) Sommerferien / Eine Reise (#u01ccacce-6b98-5249-8815-7ee15eb0a87b) Sommerferien/Vorboten (#u6e49fe95-16b8-54da-b0eb-72478d5a6655) Winterferien und danach (#ub60711d5-e4ef-53b3-8a9d-2ccda3f0c0d8) Die Tragödie rückt näher (#u6d4d6f2e-56fa-5ddd-8a94-b867dc960170) Nichts mehr ist wie zuvor (#ud705e1fa-5570-5213-bb64-1cdaf6794866) Ich, Xavelia (#uaf64bacd-7306-52f8-8e41-ebdfad319a4f) Ich, Berret (#uf453d1ab-e578-51f4-b2e8-5c9962118ea6) Dunkelheit (#u3891eef1-5b25-5716-a8c5-a3580e0f6c32) Der Zusammenbruch (#u505c7bc8-8a02-530e-88e9-5c65bf7cbcd8) Verrat und Reue (#u4155827f-b097-5c47-be96-c0659111b0f0) Der Plan (#ubc79cf1a-7569-5094-8461-ee86d5d0c8d3) Das Ultimatum (#u959de8d5-35f3-5035-ad98-ede602322192) Bedrängnis (#u62e7a93b-9e11-5ec1-bd14-e96d61a901e0) Der Skandal (#u91e2a537-fd5a-597a-919a-7eb28be3229b) Nichts geht mehr seinen Gang (#ud6d24d7a-99e4-5dc1-b05f-2d2231e7a8b6) Zwischenspiel (#u900b3a0c-e306-5bb6-ad01-5b5c4d4d3c27) Der Prozess (#u553531f1-221f-53cd-bc19-6fab948f8482) Das Leben der Familie Gardot (#u29bc0b0b-caef-5317-b60d-777d569973be) Die Pferdeflüsterin (#ueda3cef1-72fe-5912-a05c-c8befee9ba79) Jahre des Schweigens (#ub34cff07-447a-5df7-8431-e34f9842039d) Jugend und Chaos (#udd859480-c453-5dcb-86bb-dc0aa6f74b29) Achtzehnter Geburtstag (#u7bb02cf7-a9d5-5f72-8635-ad0a23efcfb0) Trauer, Tod und Neubeginn (#u8647b42f-67ca-529f-b561-805e03ba33ef) Das Wiedersehen (#u2adf8b9a-2539-54f5-a190-93b53ab5f4dc) Enttäuschte Hoffnung (#udd05a442-8435-5e09-a0ca-0861e7a65969) Das Geschenk (#uc0e1d445-f2fa-5c36-ac56-8f4e2b062d7d) Im Vakuum (#ue90001c9-638d-50f8-b3af-45f8cdc3d192) Die Entscheidung (#u1d3c5c94-bf15-50d0-89b3-875a14d8a6fd) Aufbruch ins Unbekannte (#ubb2bec64-88e4-5e4f-a0de-6850e8bbcebd) Fado, Gesang der Nacht (#u5c3781a5-b9f3-5beb-8be4-50b539ad1051) Der Brief (#uf5b8a68f-043f-5e21-a0e7-2b06d969db90) Rondo (#u0fb7c699-8d9e-5e33-9dc2-07562fc43f20) Epilog (#u25c60968-547e-50a3-970c-ba07f0b13c24) Dank (#uf5ed7666-8194-5092-9150-d882e349b7bf) Über die Autorin (#u716ef346-998c-5015-bee0-01fb4a8b1709) PROLOG Die Journalistin und die Prozessakte Im Sommer des vergangenen Jahres nahm die Journalistin Albertine Martinek eine Prozessakte zur Hand. Sie war ihr von einer auffallend schönen, brünetten, etwa vierzigjährigen Frau kommentarlos übergeben worden. Albertine Martinek hatte die Akte oberflächlich durchgeblättert und dann zuunterst ihres Aktenberges abgelegt. Dort staubte sie vor sich hin. Ja, Albertine hoffte im Stillen, dass sie die Akte vergessen würde. Doch sie kam ihr immer wieder in den Sinn oder gelangte beim Aufräumen und Ordnen unbeabsichtigt in ihre Hände. Die Sache war ihr im Grunde zu heikel. Das Leben hielt genug Katastrophen bereit, man musste sie nicht provozieren. Gewöhnlich handelte sie mit kühlem Kopf. Der Inhalt der vernachlässigten Akte erinnerte Albertine immer wieder an eine Episode aus ihrem eigenen Leben. Beständig und in aller Stille begannen die dort beschriebenen Ereignisse ihre eigenen Vergangenheit heraufzubeschwören. Sie fühlte sich gedrängt, ja genötigt, sich die Akte vorzunehmen. Also begann sie noch einmal, in den Unterlagen zu blättern. Die Prozessakte war im üblichen Juristendeutsch abgefasst, trocken, ohne Emotion und mit einem sachbezogenen Urteil versehen. Doch diesem Urteil schienen lange Überlegungen vorausgegangen zu sein. Das Gericht brauchte zur Urteilsfindung einige Wochen. In den Unterlagen befand sich auch ein wirres Durcheinander von Briefen, Zetteln mit kindlichen Zeichnungen, codierten Botschaften, die kaum zu entschlüsseln waren, Gedichte auf weißem Papier und Todesanzeigen. Ebenso gab es eine genaue Beschreibung des Ortes, an dem sich die Ereignisse abgespielt hatten. Albertine beschloss, diesen Ort aufzusuchen. Sie erwartete allerdings nicht, nach so langer Zeit noch Erinnerungen oder Dokumentarisches vorzufinden. Immerhin waren Jahre vergangen. Sie wollte aber die Atmosphäre des Ortes erspüren, um der Geschichte, die sich dort ereignet hatte, nahe zu kommen. Sie fuhr an einem kalten Wintermorgen los und fand ein verlassenes und verfallenes Gehöft unter einer weißen Schneedecke begraben. Es war früher Nachmittag. Sie betrat das Gelände, spähte durch blinde Fensterscheiben, stapfte auf einem tief verschneiten Pfad eine Mauer entlang, fand die mit Gestrüpp überwachsene ehemalige Pferdekoppel, die Stallungen mit eingebrochenem Dachstuhl, dann Maschendraht auf frostiger Erde und einen vermoderten Zaun, der die Grenze des Anwesens anzeigte. In der Ferne leuchteten weiß in weiß die Spitzen der Alpen hervor. Über ein aus den Angeln gehobenes Tor gelangte sie in den Hinterhof. Durch die Fensterscheiben entdeckte sie den ehemaligen Speiseraum mit einem großen Esstisch, um den Stühle herrenlos, wild und ungeordnet herumstanden. Sie sah Truhen, wie zum Aufbruch aus- oder eingepackt und hastig stehengelassen. Etwas abseits spähte sie durch eine zersplitterte Glasscheibe in die angrenzende Scheune. Die Scherben im Fenster waren mit rot bemalter Pappe, einer Blutspur gleich, notdürftig abgedeckt, die Werkstatt noch voller Hobelspäne und herumliegendem Werkzeug, als hätte gestern hier noch jemand gearbeitet. Auf einem Fensterbrett fand sie dann, mit Schnee und Laub bedeckt, von Kinderhand bemalte Steine, darunter auch einen Stein, in den ungelenk der Name „Xavelia“ eingeritzt worden war. Die Journalistin steckte diesen Stein vorsichtig, als hätte sie einen Edelstein gefunden, in ihre Tasche. Er war die einzige Erinnerung an das dortige Geschehen und der Beweis dafür, dass das Mädchen Xavelia hier einmal gelebt hatte. Dann schritt sie durch den Schnee zurück und hinterließ eine Spur, die den ganzen Winter über hielt. Denn in der Nacht kam harter Frost und es würde bis zum Frühjahr kein Neuschnee mehr fallen. Das war selten. Die Berge leuchteten an hellen Tagen schneeweiß herüber und in den klirrenden Winternächten spannte sich ein funkelndes Sternenzelt über die Hochebene. Albertine Martinek ordnete, wieder zu Hause, die Zettel, Briefe und Tagebücher, welche die Ereignisse jenes Ortes preisgaben, und heftete sie chronologisch in die Akte ein. Dann begann sie zu schreiben. Sie würde den beiden Hauptpersonen eine eigene Stimme geben und sie ihre Sicht der Dinge selbst erzählen lassen. Das Mädchen Xavelia und der junge Lehrer Berret Gardot sollten selbst von ihrer Liebe und vom Zusammenbruch eines ganzen Familiengefüges berichten. FADO (Berret) Vor zwanzig Jahren streifte ich, Berret Gardot, ziellos durch Lissabon. Durch die versengende Sonne der Estremadura in Spanien hatte ich eine Wanderung hinter mich gebracht, war drei Monate lang einsame Wege gegangen und vom Jakobsweg nach Santiago de Compostella abgewichen. Um mit mir ins Reine zu kommen, wollte ich alleine sein. Ich war neunundzwanzig Jahre alt und hatte eine unerlaubte und unglückliche Liebe hinter mir. Zuerst wanderte ich nach Süden und dann nach Westen, bis ich über ein römisches Brückenbauwerk, das sich weit über den Fluss Tejo spannte, in Portugal ankam. Hinter der Grenze machte ich in einem Ort namens Ponte de Sor Halt und nächtigte in einem kleinen Hotel, bis sich mein Körper wieder erholt hatte und die Blasen an meinen Füßen verheilt waren, Dann wanderte ich weiter am Rande der Landschaften Ribantejo und Alentejo bis zur Hauptstadt Lissabon. Die letzten Stunden begleitete mich der Tejo, bevor er seine Wassermassen in ein breites Hafenbecken ausdehnte und sich danach ins Meer ergoss. Ich kam in der Stadt an, in der ich endlich Linderung von meinen Schuldgefühlen und meiner Verzweiflung erfuhr und entdeckte den Fado, den Gesang vom menschlichen Schicksal und der Sehnsucht nach Erfüllung. Zunächst aber schlenderte ich am Hafen entlang, fuhr mit der Bahn bis zum westlichsten Zipfel Europas und blickte auf die Weite des Ozeans, während die Schiffe die Mündung des Tejos ein- und aus fuhren. Die Seeschwalben zogen ihre Kreise über dem Wasser, das wie ein gläserner Spiegel an diesem heißen und windstillen Tag vor mir lag. Das ewige Rauschen des Ozeans und der Blick zum fernsten Horizont versetzten mich in eine Stimmung der Ehrfurcht. Die Dinge erhielten ihre Ordnung. Klein wurde klein und groß wurde groß. Auch meine vergangenen Jahre sah ich plötzlich in anderem Licht. Ich hörte auf, mich zu bemitleiden und begann zu begreifen, dass mein Schicksal nicht mit Vergessen und Ablenkung zu bezwingen war. Der Wahrheit ins Auge zu schauen und mit dem Verlust und der Schuld zu leben, das sollte ich in einem langen Prozess lernen. Dieses und mehr begriff ich in den Nächten danach in einem Fadolokal der Altstadt. Ich tauchte dort in ein tiefes Meer der Gefühle, ja ich stürzte kopfüber hinein durch die Gesänge der Fadistas, die von Sehnsucht und Verzweiflung, gescheiterter Liebe und unstillbarem Verlangen erzählten. Die Welt um mich herum vergaß ich und spürte die Erschütterung der Reue und den intensivsten Wunsch nach Wiedergutmachung. Endlich konnte ich mich meinem Schicksal beugen, ja es sogar lieben. Von Tag zu Tag fühlte ich mich immer mehr geläutert, bis der Zeitpunkt kam, an dem ich wieder in meine Heimat zurückkehren konnte. Es geschah nur wenige Tage nach meiner Ankunft in Lissabon, als ich die Lieder des Fados entdeckte. Ich lief am späten Abend noch ziellos durch die engen Gassen der Alfama, mischte mich unter die Einheimischen, ließ mich treiben und landete schließlich in jenem Lokal mit trüber Beleuchtung und einfachen Holztischen, um die sich eine dunkle Menschenmenge drängte. Die Touristen hatte ich hinter mir gelassen. Im Stimmengewirr vernahm ich die kehligen Laute der portugiesischen Sprache. Man befand sich in lebhaften Gesprächen miteinander, saß oder stand in kleinen Gruppen herum, gestikulierte heftig, umarmte sich oder klopfte sich freundschaftlich auf die Schultern. Nur ich war allein. Ich spürte wieder meine Einsamkeit. Den ganzen Tag hatte ich wenig gegessen, hoffte auf ein Abendbrot und erhielt Degenfisch mit gegrilltem Gemüse und einen guten Wein. Das Essen stärkte mich. Als ich das Lokal wieder verlassen wollte, verdunkelte sich der Raum und es wurde ein schweren Vorhang vor die Eingangstüre gezogen. Die Gespräche verstummten augenblicklich. Es trat eine spannungsvolle Stille ein. Eine schwarz gekleidete Dame erhob sich und trat ins Scheinwerferlicht in die Mitte des Raumes, einen einfachen Schal um ihre Schultern gelegt. Sie Spannung stieg, gebannt richteten sich die Blicke der Anwesenden auf sie, die mit rauer, dunkler Stimme zu singen begann, zu sprechen, zu rufen und zu flüstern. Zwei Begleiter mit Saiteninstrumenten improvisierten ihre Begleitmusik in dunklem Moll. Die Musik wühlte mich augenblicklich auf. Wehmut, Schmerz und die Sehnsucht nach Glück und Erfüllung versetzen mich in einen Rausch. Ich durchmaß die Abgründe und die Höhenflüge des Lebens. Wie alle im Raum konnte ich dem Sog nicht widerstehen, der mich in die Tiefe meines verwirrten Herzens herabzog. Schmerzvoll und deutlich standen mir die letzten, langen Jahre vor Augen: meine Leidenschaft zu Xavelia, meine schuldhafte Liebe, die Bestrafung – der Wunsch nach Wiedergutmachung, meine Irrtümer, mein Sturz in die Tiefe, die Einsamkeit, die Ausgeschlossenheit aus der Gesellschaft. Hier, in der Intimität und der Dunkelheit eines winzigen Lokals, in dem eine rauchige Frauenstimme von Liebe und Schmerz sang, überließ ich mich endlich meiner Trauer. Ich weinte mit Bitternis über die verlorene Liebe, über den Verlust meiner Heimat, über meine Mutter, die webend und strickend ihr Leben im Rollstuhl verbrachte, über den Tod meines Vaters im fernen Indien und über die Verstrickungen, die mich nicht zur Ruhe kommen ließen. Die schwermütigen Lieder erlösten mich im Lauf der nächsten Wochen aus meiner Lähmung. Es begann, mir besser zu gehen. Ich wurde dem Leben neu geschenkt. Einige Wochen hörte ich dem Fado zu. Einige Wochen lebte ich auf den Augenblick hin, in dem in einem kleinen Lokal in der Alfama die Lichter ausgingen, im Halbdunklen eine Fadista hervortrat und mit Augen und Mund, mit Händen und Füßen und mit dem ganzen Körper ihre Leiden aus ihrem Innersten heraussang, bis auch meine Leiden zu schmerzen aufhörten. Immer wieder sangen sie dort ihre Lieder von der Saudade, der niemals erreichten Erfüllung und der Erfahrung, nie am ersehnten Ziel anzukommen. So, wie sich die Stimmung der einzelnen Fadistas von Tag zu Tag wandelte, so wandelten sich auch Tonart und Rhythmus, Mimik und Ausdruck des Körpers und so verwandelten sie mich. Mal sang die Fadista bewegt und mit großer Kraft, dann fühlte ich mich gestärkt. Mal stand sie still und rührte sich nicht, während ihre Lippen nur flüsterten, dann spürte ich angespannt das Zittern meiner äußersten Nervenfasern und mein Herzschlag stockte. Mal wurde sie ein Erdbeben, dann brachen aus mir alle ungesagten und dem Gedächtnis verwehrten Gesteins- und Felsbrocken des Schmerzes wie Lava hervor. Besessenheit breitete sich aus in jenen Nächten der Gesänge, während die Fadistas ihren Körper wie einen Baum im Wind bewegten, mit den Füßen auf einen Flecken Erde gebannt, der nicht größer war als die Fläche meines Briefpapiers, das ich im Augenblick in Händen halte, ein Bogen Papier, beschrieben mit Xavelias Handschrift, ihre jährliche Botschaft verkündend, die mich aufrichtete. Ich erinnere mich zurück. Ich erinnere mich genau an die Erschütterung und die Erleichterung, die ich vor nunmehr zwanzig Jahren in jenen Nächten erfuhr, als ich dem Fado lauschte. Ich erkannte, dass wir nur dann das Leben verdient haben, wenn wir uns über den Verlust erheben und den Mut zu immer wieder neuem Anfang wagen. Das Leben ist Schuld. Das Leben ist Verzweiflung. Aber das Leben ist auch und vor allem das Versprechen eines Paradieses, um das wir todesmutig zu kämpfen haben. Unsere Krönung wird immer die Liebe sein. So machte ich mich damals wieder auf den Weg. Ich kehrte zurück. Ich ordnete meine Geschäfte und begann mein Leben neu. Trotzdem vergesse ich nie. ICH VERGESSE NIE (Berret) Nie werde ich den Tag vergessen, an dem ich meiner jungen Geliebten begegnet bin. Es war der Tag, der mich später in unüberwindliche Leidenschaft stürzen und mein Leben aus der Bahn werfen sollte. Es war der Tag, der mich zu der Wanderung durch die Estremadura Spaniens veranlasste und mich über die portugiesische Grenze hinweg bis nach Lissabon führte. Jahre hatte es danach gedauert, bis ich mir wieder eine bürgerliche Existenz aufbaute. Lange hatte ich gebraucht, das Geschehene zu akzeptieren und meine Handlungen zu verstehen, noch länger, um zu verzichten. Bis heute kann ich Xavelias Zauber nicht entfliehen. Ich bin und bleibe ihr ergeben, obwohl ich als Geschäftsmann kühl und berechnend handele und mir meine Beziehungen frei nach Wunsch und Möglichkeit gestalten kann. Ich könnte frei sein, aber ich bin es nicht. Was fesselt mich so lange und hindert mich, mein Leben intensiver und vielseitiger zu gestalten? Warum gibt die Vergangenheit keine Ruhe? Fünfzig Jahre bin ich nun bald, ein Mann im sogenannten besten Alter: schlank, sportlich, sonnengebräunt und durchtrainiert, wie es unsere Zeit abverlangt. – Alles nur Ablenkungsmanöver vom Wirklichen, von meinem Innern, in dem die Wurzeln eines anderen Wesens wachsen und sich mit meinem Lebensbaum verbunden haben. Mein Herz ist laut kardiologischer Untersuchung gesund. Es schlägt fest und regelmäßig. Es schlug für viele Frauen. Eigentlich aber schlug es bis zum heutigen Tag nur für Eine. Ich akzeptiere es. Sie ist jetzt bald vierzig Jahre alt. Graue Fäden durchziehen mittlerweile ihr dichtes, braunes Haar, wie ich auf einer Fotografie ersehe. Doch dies nimmt ihr nichts von ihrer Ausstrahlung und ihrer Persönlichkeit. Sie ist alterslos für mich. Sie bleibt und bleibt. Sie bleibt ihrem Wesen treu. Noch nie habe ich einen Menschen getroffen, der sich trotzt allen Widrigkeiten so konstant treu geblieben ist und unveränderbar im Charakter. Sie lässt sich nicht verbiegen. Sie ist wie ein schöner und starker Baum, um den sich meine Wurzeln und meine Äste ranken, obwohl wir weit voneinander getrennt leben. Ich nehme jetzt ein Glas Champagner wie in all den Jahren an diesem denkwürdigen Tag und trinke auf meine ferne Geliebte und auf unsere Bekanntschaft. Ich trinke darauf, dass das Schicksal uns gnädig war und wir wieder in das Leben zurückgefunden haben. Ich trinke darauf, dass wir uns immer noch verbunden sind, obwohl wir uns lange nicht mehr begegnen. Ich trinke auf die Gewissheit, dass alles kein Traum war, sondern unser reales Leben, das uns verwundete, das uns mit dem Gesetz in Konflikt brachte sowie die Existenz meiner Familie vernichtete. Und doch möchte ich die Ursache „Liebe“ nennen. Denn niemals habe ich mich später mehr binden können. Ich war bereits gebunden. Manchmal war es ein Anruf, manchmal ein Brief, manchmal eine unerwartete SMS. So lebendig standen dann die Ereignisse wieder vor mir, dass es mir nicht mehr möglich war, einer neuen Beziehung die Liebe und Zuneigung zu geben, die sie verdiente. Ich trinke darauf, auf dass es meiner fernen Geliebten gut gehe. Ich trinke darauf, dass das Leben trotz technischer Perfektion eine unberechenbare Sache bleibt und ein Geheimnis in Allem ruht, das wir enträtseln müssen. Ich trinke auf meine tote Großmutter und auf meinen Vater, der in Indien starb, und ich spüre, dass die Toten hier an diesem Tag anwesend sind, dass ich nicht alleine bin. Ich trinke auf die Trauer meiner Mutter und dass sie ihr dienen möge, ihre Härte zu überwinden und einen Neuanfang zu wagen. Ich trinke auf Alle, die an unserer Geschichte teilgenommen haben, in sie verwickelt waren, uns stützten oder stürzten. Jedes Jahr zu diesem Tag schreiben wir uns einen Brief. Dies tun wir nun schon, seit wir uns endgültig trennten und dies zu meinem Entschluss führte, über die spanische Estremadura nach Portugal zu pilgern. Sie war damals neunzehn Jahre und noch einmal nach unserer langen und unfreiwilligen Trennung für kurze Zeit zu mir zurückgekommen. Die Zeilen meiner Briefschreiberin liegen vor mir, verschlossen noch, in einem taubenblauen Briefumschlag. Zu Anfang schrieb sie auf mandelfarbiges Papier. Und ich dachte an Mandelbäume, die zauberhaft blühen, aber Bitterstoff in ihren Früchten verbergen. Später nahm sie andere Farben für ihre kostbare Post. Ich sammle ihre Briefe in einer Truhe mit den Initialen meiner Großmutter. Mehr als hundert Jahre alt ist dieses Holzkästchen. Es enthält zwanzig wertvolle Briefe. Sie war vierzehn, als unsere Liebe begann und ich nicht widerstehen konnte. Ich war vierundzwanzig. Wir waren ein verschwiegenes Paar. Unsere heimliche Affäre wurde lange nicht bemerkt. Wir trafen uns in den Nächten, wenn der Nebel über den Dächern des Anwesens lag. Wir trafen uns im Morgengrauen, bevor die Sonne ihr erstes Gold über den Hügel schickte. Wir liefen Hand in Hand barfuß über Wiesen, wenn die Vögel noch schliefen. Wir kamen im Vogelkonzert nach Hause und verschwanden wie Schatten in unseren Türen, ohne dass uns jemand sah. Nach Hause? Das war das Gehöft mit der Pferdekoppel, das oben auf der Hochebene liegt, von der man bis zu den Alpen blicken kann. Zu Hause, das war der elterliche Betrieb mit dem Schulhaus, den Werkstätten, der Töpferei, der Schmiede und der Weberei. Der Hof war umgeben von Gärten und Wiesen. Zu Hause, das war der große Eichentisch auf der Veranda, um den sich die Bewohner versammelten wenn es Sommer war: meine Eltern, meine beiden Schwestern, zwanzig Schülerinnen und Schüler, Schützlinge meiner Eltern, die hier im Wohnheim der angegliederten Privatschule wohnten – und ich. Ich war von Kindheit an daran gewöhnt. Ich verstand mich mit den Schülern und Schülerinnen, den Gästen in unserem Haus – und sie mochten mich. Als Kind spielte ich mit ihnen und als Jugendlicher verliebte ich mich in die begehrtesten Mädchen. Ich fuhr mit ihnen zur Schule und ich verteidigte sie, wenn es nötig war. Ich war einer von ihnen, vergaß, dass ich älter geworden war, jedes Mal, wenn ich das Haus betrat, ja, schon wenn ich die Toreinfahrt passiert hatte. Nach dem Abitur machte ich einige Monate Rucksackreisen durch Europa. Dann begann ich ein Pädagogikstudium und sollte es mit meinem Praktischen Jahr in „Vierundzwanzig Höfe“ beenden. Damit würde ich mir meine Existenzgrundlage in meinem Elternhaus sichern. Ich würde irgendwann die Leitung des Hauses übernehmen und mit der nahen Privatschule zusammenarbeiten. Allen leuchtete das ein, meine Eltern waren zufrieden, ich würde ihren Wünschen und Plänen entsprechen. Eine Woche zuvor hatte ich das erforderliche Praktikum dazu begonnen. Ich, Berret Gardot, begann mit diesem Tag Menschenherzen zu schmieden. Das war der Zeitpunkt, zu dem ich Xavelia kennen lernte. Meine junge Geliebte nenne ich hier „Xavelia“. „Xavelia“ mit X wie die Unbekannte in der Mathematik, die wir errechnen müssen. Oft sitzen wir lange an einer Aufgabe, die zu lösen ist. Xavelia ist eine Aufgabe, mit deren Lösung ich noch immer beschäftigt bin. Trinken wir auf sie – und dann öffne ich ihren Brief. Ich betrachte ihr Foto. Wie vertraut sie mir darauf erscheint! DAS BILDNIS (Berret) Ich sehe mir die alten Fotografien an, sehe dein Bildnis als Jugendliche und dein Bildnis als Frau. Auf einem Foto, zur Zeit, als du mir das erste Mal begegnet bist, sehe ich dich als groß gewachsenes, schlankes Mädchen mit dichtem, braunem Haar, das weit über den Rücken fällt und das Oval deines Gesichtes umhüllt. Aufmerksam blickst du in die Welt. Auf deiner letzten Fotografie, mehr als zwei Jahrzehnte später, sehe ich dich als erwachsene Frau, aber unverändert derselbe Blick, dieselben Augen, klar und direkt blicken sie mich an. Der Schleier aus deinem braunen, langen Haar ist jetzt durchzogen von einzelnen Silberfäden. Du könntest meine Frau sein, wenn alles anders gekommen wäre. Wir hätten eine Familie gegründet. Wir hätten möglicherweise zwei oder drei Kinder, wenn ich vernünftig und verantwortlich gehandelt hätte. Wenn ich erwachsen und reif gehandelt hätte. Aber es war anders gekommen. Wir hatten geträumt. Wir lebten für einige Zeit in einer anderen Welt, fernab von der Wirklichkeit. Uns hätte am Schluss nur noch die Flucht gerettet. Wir planten, zu verschwinden. Einfach so, für drei Jahre – irgendwohin nach Andalusien, nach Südamerika, nach Indien, vielleicht auch nur in die tiefe Bergwelt der Abruzzen. Wir beide, Naturkinder damals, mit Wenigem zufrieden, nur mit uns selbst. Wir hätten mein Zelt mitgenommen und unsere Decken, zwei Kochtöpfe, Trinkbecher und Besteck. Wir hätten uns drei Jahre von Wurzeln ernährt und von Früchten oder von den Fischen im Bach. Wir wären durch die tiefen Wälder gewandert, ein Zelt auf dem Rücken, von Quelle zu Quelle. In den Nächten hätten wir den Frieden der Welt beschworen und die ewige Liebe. Ab und zu wären wir im Trubel einer Stadt untergetaucht. Wir hätten auf dem Marktplatz für einen Nachmittag getanzt und Volksfeste mitgefeiert. Wir hätten uns Dome angeschaut und Häfen, wären mit dem Schiff über einen Fluss entkommen. Wir wären in stille Bergseen eingetaucht und dann wieder in der Dunkelheit der Wälder oder in die Einsamkeit der Berge verschwunden. Drei Jahre hätten wir das durchgehalten, auch ohne die Pferde und den Hund. Wir hätten vielleicht zwei neue Hunde gefunden, Streuner in Spaniens Straßen, abgemagert und verlaust. Wir hätten sie gesund gepflegt. Wir wären Jäger, Sammler und Fischer geworden – für drei Jahre, und du hättest vielleicht Armbänder geflochten, wie du es in Vierundzwanzig Höfen gerne getan hast, um sie zu verkaufen. Dann erst wären wir wieder zurückgekommen. Die Vermissten, die Betrauerten. Der verlorene Sohn, die verlorene Tochter. Dann hätten wir mit dem Segen der Eltern zusammengelebt, ohne Strafe durch das Gesetz. Wenn, ja, wenn die Katastrophe nicht eingetreten wäre – oder wenn ich mich mutiger und stärker erwiesen hätte. Ich träumte und ich träume immer noch. Einmal im Jahr wenn ich deinen Brief erwarte. Ich betrachte dein Bildnis immer noch und vergleiche es mit früheren Bildern: dein dichtes Haar, die Linie deiner Nase in deinem Profil – eine gerade Linie – unverbogen wie dein Herz. Deine Augen, sie blicken in die Welt, und sie sehen sie, wie sie ist. Nicht nach innen gewandt, dein Blick, sondern nach draußen: zu dem Pferd, an das du dich lehnst, zu den Hunden, die spielten, zu mir, der ich den Wagen mit Holz belud. So wach und furchtlos schaust du in den Tag hinein, heute noch genau so wie früher. Ich erkenne auf dem Foto deine immer noch schlanke Gestalt und deine Hand, die fest die Zügel deines Pferdes hält. Das Pferd steht ruhig, dankbar, geführt zu werden von dir. Ich erinnere mich an deine Hände, die Nüstern streicheln und Äpfel reichen, die eine Decke über den schweißbedeckten Körper eines Pferdes legen und frisches Stroh in die Box. Du, ein Wesen, das mit festen Schritten kommt und geht. Ich sehe uns ausreiten mit unseren Pferden. Wir fliegen dahin. Mit langen Beinen und schlanker Hand führst du, ohne darüber nachzudenken und ohne Arglist, Regie. Ja, über die Pferde haben wir uns kennen gelernt. Nachdem wir uns zwangsweise lange Zeit nicht mehr sehen durften, begann die erste Zeile deiner Nachricht mit dem Namen meines Pferdes in unserem damaligen Zuhause, das mittlerweile zerfallen ist und nicht viel mehr als Wildnis. „Ich weiß, wie Dein Pferd hieß in Vierundzwanzig Höfen und ein Geheimnis von uns beginnt mit dem Buchstaben ‚M‘. Wer bin ich?“ Mit diesen Worten wolltest du dich mir zu erkennen gebe. Als ich die Botschaften las, wusste ich, Xavelia ist es. Sie hat sich wieder gemeldet. Sie hat den Schritt getan, der mir verwehrt geblieben wäre. Sie musste den ersten Schritt gehen und ich musste darauf warten – und ich hoffte und glaubte, dass alles wieder von vorne beginnen könnte. Sie war damals achtzehn Jahre alt. Meine Hoffnungen sollten mich trügen. Nie mehr ist sie ganz zurückgekehrt. Nie mehr wurde es wie damals. Denn zwischen uns standen der Schmerz und der Verrat, den ich aus Feigheit beging. Ihr Bildnis aber ist mir geblieben: Xavelia mit wehenden Haaren auf dem Pferd. Xavelia, schlank und stark wie eine Kriegerin. Xavelia in Jeans und Reitstiefeln. Xavelia, die sich nicht um ihre Schönheit bekümmerte. Xavelia, ein Naturereignis. KINDHEIT (Xavelia) Ich bin Xavelia, das Kind und die Jugendliche, ich bin Xavelia, die Frau, von der Berret spricht. Xavelia, die immer noch schwere Träume hat. Xavelia, von der Berret glaubte, sie käme zurück. Ja, wie gerne wäre ich zurückgekommen. Berret ist der Mensch, der mich am besten kennt. Berret ist mir am nächsten, und ich glaube, dass auch ich die wichtigste Person für ihn bin. Seit damals. Ein Kind noch, sagte man. Aber ich glaube nicht, dass ich noch ein Kind war. Niemand konnte mich zähmen. Ich hatte meinen Willen. Ich passte mich nicht an. Nicht an die Schulen, in die man mich steckte und nicht an das Familienleben zu Hause, nicht an den Tagesablauf in den Heimen und Internaten, in denen ich notgedrungen lebte, und auch nicht an die Liebe von Eltern und Geschwistern. Meine Freiheitsliebe war ungebrochen und ungebremst. Ich ließ mich von Menschen nicht einengen. Ich hatte das Vertrauen verloren, dass sie es gut mit mir meinten, aber nicht meinen starken Charakter. Seit damals, als ich vor Kopfschmerzen zu schreien begann und niemand mir half, als ich Teller und Tassen zerschmetterte, wenn der Schmerz unerträglich wurde und man mich für böse hielt, hatte ich mich von den Menschen zurückgezogen. Niemand wusste, was ich durchmachte, weil es in meinen Ohren dröhnte und in meinem Kopf hämmerte. Es waren die Tiere, die mich von meinem Unverstandensein erlösten. Die Tiere und ich, wir fanden uns, als ich mit acht Jahren in die Heimschule kam. Sie verstanden mich. Ihnen passte ich mich an. Meine Mutter erzählte mir, dass ich krank geworden bin. Als kleines Kind hatte ich das Gehör verloren. Ich habe viel geweint, ja, so viel geschrien, bis sie mein Geschrei nicht mehr ertrug. Ich habe gebissen und um mich geschlagen und auch mit Gegenständen geworfen, wie schon berichtet. Sie ist mit mir von Arzt zu Arzt gegangen und von Klinik zu Klinik, alleine, denn meine Eltern lebten zu der Zeit schon getrennt. Alle Diagnosen trafen nicht zu. Später gab man einer Masernerkrankung und einer darauf folgenden Hirnhautentzündung die Schuld. Fest steht, dass ich immer wilder wurde und nicht aufwuchs wie die anderen Kinder. Ich hatte das Gehör verloren. Weil ich nicht mehr hörte, was man sprach, konnte ich mir die Welt auch nicht erschließen. Ich verlernte die Sprache ganz. Ich wusste lange Zeit nicht, was die Welt von mir wollte. Ich bekam ein Hörgerät und riss es mir wieder aus den Ohren. Ich wehrte mich und biss, weil niemand, gar niemand an meinen inneren Gedanken und Gefühlen teilhaben konnte. Deshalb habe ich die Tiere entdeckt. Denn die Tiere ließen mich in Ruhe und sendeten Botschaften aus, die ich verstand. Sie waren einfach und klar. Sie wollten Nahrung und Zuwendung, Bewegung und Spiel und wenn sie müde waren, ihre Ruhe. Jedes Tier hatte seine besondere Eigenart, aber darin waren sie sich alle gleich. Sie waren wie ich. Ich war wie sie. Im Steidelhof, der Heimsonderschule für Hörgeschädigte, in die mich meine Mutter irgendwann brachte, kam ich zum ersten Mal mit den Tieren in Berührung. Er befand sich am Rande einer Ortschaft, mitten in den Wiesen gelegen, und bestand aus dem Schulgebäude, fünf Wohnhäusern, in denen die Hauseltern mit den Schülerinnen und Schülern lebten und einem großen Gehöft. Dort durfte ich den Tag mit den Tieren verbringen. Ich blieb bis zu meinem dreizehnten Lebensjahr. Die Tiere ersetzten mir bald alles. Sie hörten auf mich, sie trösteten mich – und ich lernte, sie zu versorgen. Sie wurden meine Weggefährten und meine Aufgabe. Ich hielt mich im Schafstall auf und sah, wie die Lämmer zur Welt kamen. Ich strich über das Fell der Kälbchen, wenn sie, nass und wacklig, sich zum ersten Mal auf ihre Füße stellten. Ich ging zu den Fohlen auf die Weide und sah, wie die Stuten sie säugten. Ich konnte bald mit den wildesten Hunden und den schwierigsten Pferden umgehen. Sie wurden sanft und anhänglich mir gegenüber. Ich hatte meine Welt gefunden. Ich brauchte die Menschen nicht mehr. Gleich zu Beginn lernte ich reiten. Rasch übernahm mein Körper den Rhythmus des Pferdes. Nie hatte ich Angst. Ich hatte eine geschickte Hand und starke Nerven. Das merkte auch der Tierarzt und ich stand ihm bald zur Seite. Ich hielt die Tiere fest, die behandelt werden mussten, und ich beruhigte sie mit Streicheln oder reichte dem Tierarzt die chirurgischen Werkzeuge, die er manchmal benötigte. Ich war zehn Jahre alt, als ich bei der ersten Operation assistierte. Ich tat dies, ohne mit der Wimper zu zucken. Mittlerweile hatte ich auch das Hörgerät akzeptiert und die Sprache erlernt. Ich begann zu lesen und zu schreiben. Man gab mir Einzelunterricht. Aber an die anderen Kinder schloss ich mich nicht an. Meine Freunde blieben die Tiere, vor allem aber die Pferde. Ich bekam ein eigenes Reitpferd zugeteilt. Eine Einheit werden mit ihm, sein Wesen verstehen, dahin reiten im Trab, im Galopp, im ruhigen Schritt, ihm Futter geben, es abtrocknen, seine Nüstern an meinen Ohren spüren, sein Wiehern, wenn ich kam, das war Glück. Das war tiefe Freude. Ich lebte mein eigenes Leben mit den Tieren fernab von den anderen Kindern – und so blieb es, bis ich den Steidelhof verließ. Ich war noch ein Kind, aber trotzdem kein Kind mehr. Ich war ein Kind, weil ich die Welt noch nicht kannte und noch unerfahren war. Aber ich war auch kein Kind mehr. Denn ich hatte Verantwortung übernommen. Die Erfahrung mit den Tieren hatte mich stark gemacht. Ich war mutig und traute mir das Leben zu. Ich lernte die Anhänglichkeit meiner Tiere kennen, die Verlässlichkeit des Lebens sowie die Achtung und den Respekt, mit dem unser Tierarzt mir begegnete, dem ich immer fachkundiger assistierte. Ich wurde seine rechte Hand. Ich lebte dort sehr selbstbestimmt. Denn ich ließ mich nicht mehr erziehen. Meine Mutter scheiterte an mir und meiner Widerstandskraft. Sie hatte aus Unwissenheit und Hilflosigkeit vieles falsch gemacht. Ein Zurück gab es vorerst nicht mehr. Ich besuchte meine Mutter in den Ferien. Mein Vater hatte mittlerweile eine neue Familie gegründet. Ich sah ihn an Weihnachten, außer er kam zu Besuch in den Steidelhof, um dort über meine Zukunft zu reden, was er zuletzt immer häufiger getan hatte. Es wurde über meine Berufsausbildung nachgedacht. Im Privatunterricht hatte ich alles notwendige Wissen nachgeholt. Ich ging im letzten Jahr zur Schule, um mich an die Gemeinschaft zu gewöhnen. Ich trat nicht mehr und biss nicht mehr. Ich hielt das Gefühl aus, in einen Klassenraum zu bleiben, ohne mich eingesperrt zu fühlen. Meine Mutter und auch mein Vater waren glücklich über meine Entwicklung. Ich sollte auf eine weiterführende Schule gehen und sie mit der mittleren Reife abschließen. Dann konnte ich Tierpflegerin oder speziell Pferdepflegerin werden. Das waren auch mein Wunsch und mein fester Wille, mein Lebenstraum. Den Traum habe ich auch verwirklicht. Heute besitze ich meinen eigenen kleinen Reiterhof. Ich habe alles erreicht, was ich mir vorgenommen und erträumt habe. Nur eines fehlt mir. Eines ist zu Bruch gegangen bei der alten Geschichte, die so lange zurückliegt und doch immer noch so nah ist. Einen Wunsch konnte ich mir nicht erfüllen – und er steht zwischen Berret und mir. Er weiß es nicht. Ich habe es ihm nie gesagt. Ich habe nie darüber sprechen können. Es gibt einen Schmerz, der in meiner Seele sticht, wie viele spitze Nadeln und ich spüre das Stechen besonders in den langen Nächten, wenn die Träume wieder kommen und keine Ruhe geben. Ich werde wahrscheinlich keine Kinder bekommen. Ich wäre so gerne Mutter geworden. Ich sehne mich nach einem Kind, es ist ein großer Verlust für mein Leben und ich gebe die Schuld daran der tragisch geendeten Beziehung meiner frühen Jugend. So lebe ich denn mit meinem eingekapselten Kummer und zeige ihn nach außen nicht. Was hätte es geändert und was würde es ändern? Immer wieder, so dachte ich, würde ein Schatten unseren Tag verdunkeln, wenn ich seinen Antrag annehmen und mit ihm zusammen leben würde. Deshalb zog ich irgendwann eine Trennungslinie und stürzte mich in das wilde Leben der Jugend, die ich nachzuholen versuchte. Außerdem kam mir der Liebhaber meiner frühen Jugend damals so gereift, so wesentlich älter vor, als ich mich mit achtzehn, neunzehn, zwanzig Jahren empfand. Wie kann es sein? Hatte ich mich so getäuscht? Wie hatte ich ihn geliebt! Ich wolle, ja ich musste meine Jugend nachholen, nachdem ich die zurückliegenden Jahre von Erziehern und dem Jugendamt überwacht so unfrei gelebt hatte. Deshalb bin ich bald Beziehungen mit Gleichaltrigen eingegangen. Ich kehrte aber eine Zeitlang immer zu Berret zurück, weil ich mich auch nicht lösen konnte. Aber es kam der Tag, an dem ich ihn endgültig verließ. Auch Berret konnte das Hin und Her nicht mehr ertragen. Ich ging meinen eigenen Weg, obwohl wir beide die Verbindung nie ganz aufgeben konnten. Wir schrieben uns Briefe, aber leben konnten wir nicht miteinander. Nur so, auf die Entfernung, konnten wir die vergangenen Jahre in Ruhe leben. Ich hatte mich dafür entschieden, so lange zu warten, bis mir meine Gefühle vielleicht einen anderen Weg ermöglichen würden. DIE BEGEGNUNG (Berret) Ich stehe am Fenster und betrachte den Sternenhimmel. In der Villa meiner Großmutter habe ich das oberste Stockwerk ausgebaut wie ein Planetarium. Über mir eine Glaskuppel. Um mich herum riesige Fenster. Ich stehe an einem dieser Fenster ganz allein. Ich und das Weltall. Das Weltall und die Vergangenheit. Die Vergangenheit und das Leben. Das Leben und der Tod. Meine verstorbene Großmutter ist wieder im Raum. Sie ist zurückgekehrt, um mir die Hand aufzulegen und mir zu verzeihen. Mein Vater ist da und spielt wieder Cello, meine Mutter sitzt am Webstuhl und webt und webt, und dann sehe ich das Wohnhaus, wieder in „Vierundzwanzig Höfe“ am höchsten Punkt des Hügels – und ich sehe die schneebedeckten Berge hervortreten aus der Dunkelheit. Weiß leuchtet der Schnee und blutrot war der Himmel über dem Tal, als die Sonne aufging. Der Tag bricht an. Xavelia kommt. Sie ist angemeldet zum Probewohnen. Sie trägt einen rotweiß karierten Koffer in der rechten Hand und in der linken Hand einen offenen Korb mit einem Kaninchen. Ich soll das neue Mädchen empfangen. Ich bin sehr gespannt. Die Begrüßung neuer Schüler und Schülerinnen ist im Allgemeinen schon ein Grund leichter Anspannung. Wer kommt? Welche Persönlichkeit bringen die Neuen mit? Wie leben sie sich ein? Welche neuen Erfahrungen werden wir miteinander machen? Auf welche Art und Weise wird sich unser Zusammenleben ändern? Denn jeder Mensch bringt eine solch individuelle und einzigartige Lebensgeschichte und seinen einmaligen Charakter mit, der niemals ersetzbar oder austauschbar ist. Ich spürte aber zusätzlich zu diesen Fragen sofort, dass mich die neue Schülerin tief beeindruckte, ja faszinierte. In Erinnerung ist mir alles gegenwärtig. Ich sehe ihre schöne Gestalt, ihren stolz aufgerichteten Nacken, ihren forschenden, abwartenden, angstfreien Blick. Sie geht keinen Schritt auf mich zu. Sie bleibt mitten im Hof, vor dem Auto, das sie hergebracht hat, stehen und wartet. Sie ist noch nicht gewillt, ihre langen Beine in Bewegung zu setzen. Deshalb muss ich gehen. Ich, Berret. Ich bewege mich langsam und bedächtig auf sie zu. Sie erinnert mich an einen Stern mitten im Weltall, und um sie herum die anderen Sterne Lichtjahre entfernt. Sie leuchtet. Aber sie weiß es vermutlich nicht. Ich befürchte, dass sie gleich wieder verschwindet wie eine Fata Morgana, sich umdreht und in das Auto einsteigt, zuerst den Koffer hineinschubst, dann sich selbst hineinsetzt, das Kaninchen im Korb auf dem Schoß. Ich gehe einen Schritt auf sie zu, bleibe stehen. Warte. Gehe noch einen Schritt. Warte. Gehe zwei Schritte, warte lange. Dann macht Xavelia ihren ersten Schritt in Richtung ihres neuen Lebens hier bei uns. Ich habe gewonnen. Sie kommt mir entgegen. Langsam. Das Kaninchen im Korb zittert. Am Auto, an den alten Mercedes angelehnt, wartet ihr Begleiter, ein Herr Anfang sechzig. Er wacht über sie und ihre Schritte. Bleibt sie? Ich wage ein Lächeln für sie. Ich gehe zwei Schritte, drei. Dann bin ich ihr so nahe, dass ich das Kaninchen berühren kann. Ich ziehe eines der Zuckerstücke aus meiner Jackentasche, die ich immer für die Pferde dabei habe. Ich frage Xavelia im Scherz: „Das frisst es wohl nicht“ und ich bin überrascht über ihre klare und feste Stimme und ihre nüchterne Antwort: „Gib den Zucker mal den Pferden! Bring bitte mein Kaninchen in das Gehege. Es will wieder seinen Freilauf. Die Reise war lang.“ Xavelia hatte sich also entschieden zu bleiben. Sie ging neben mir zum Gehege und wir ließen das Kaninchen frei. Sie kraulte ihm noch ein wenig das Fell und schon hüpfte es vorsichtig ins Gras davon. Sie reichte mir ihren Koffer und schwieg. Erspüren musste man, was sie wollte, sich einfühlen. Das war die Bewährungsprobe für sie: ob man über die Dinge schweigen konnte und sich trotzdem verständigen. Ich nahm den Koffer und zeigte ihr das Zimmer. Ich ging voran, aber wenn ich mich umdrehte, sah ich, dass sie mir folgte. Sie folgte mir auf leisen Sohlen. Sie richtete sich häuslich ein und saß schweigend mit uns abends am Tisch. Dort würden wir nach den Ferien bald etwas mehr als zwanzig Personen sein: meine Eltern und ich, zwei Erzieherinnen und die Schülerinnen und Schüler. Sie wohnten mit uns. Sie waren uns anvertraut. Dort saß nun auch Xavelia und nahm ihre samtenen Augen bald nicht mehr von mir. Ich war immer noch der Prinz des Hauses. Der Hoffnungsträger. Als kleiner Junge der Liebling der Eltern, das Lieblingsspielzeug der Schwestern, der Seelenverwandte meiner Großmutter, die schützend bis zum letzten Atemzug die Hand über mich hielt, der glänzende und sprachgewandte Lieblingsschüler und so weiter und so fort. Deshalb war es für mich nichts Außergewöhnliches, dass Xavelias Blick so oft auf mir ruhte. Die Tage und Wochen vergingen. Xavelia hatte sich ohne viele Worte eingelebt. Am Morgen besuchte sie die Schule, am Nachmittag fand man sie bei den Tieren. Vielleicht wäre auch gar nichts geschehen, wenn Xavelia nicht täglich bei den Pferden aufgetaucht wäre, während ich selbst dort meine Aufgaben erledigte. Ich war verantwortlich für den Reitunterricht und die Pflege und Versorgung der Tiere, und bald war auch Xavelia dort nicht mehr wegzudenken und teilte die Verantwortung mit mir. Während die anderen Schüler und Schülerinnen sich um die Arbeiten drückten, waren Xavelia und ich in den Ställen und im Gehege meistens alleine und es baute sich nach und nach eine Gemeinsamkeit auf, die immer enger und dichter wurde. Sind Sie schon einmal ausgeritten mit einem mutigen Mädchen? Sind Sie miteinander über die Felder galoppiert? Haben Sie gesehen, wie ihre Hände genau im richtigen Moment die Zügel lockerten und wieder strafften? Wenn nicht, dann urteilen Sie nicht. Schweigen Sie. Sie war jung. Aber auch ich war jung. Zu jung. Ich begann mehr an sie zu denken, als mir lieb war und sie zu vermissen. Aber noch war mir nicht bewusst, welche Gefahr uns umgab. Sonst wäre ich früh genug geflohen. Dann aber kam jener Abend, an dem meine Eltern ins Theater fuhren und ich sie alleine im Hause vertrat. Ich saß im Büro, das sich im Untergeschoß befand. Ein Stockwerk darüber lag der Schlaftrakt. Ich arbeitete am Computer, was ich immer tat, wenn ich zum Nachtdienst eingeteilt war. Xavelia lebte jetzt schon viele Monate im Haus. Es ging auf den Frühling zu. Wir hatten den Spätsommer, den Herbst miteinander verbracht, sie die Schülerin, ich der Praktikant. Wir hatten die Wälder durchstreift und Bäume zum Abholzen markiert. Wir hatten Brennholz gemacht und für den Winter gestapelt, wir hatten bis weit nach dem ersten Schnee die Pferde geritten und sie dann im warmen Stall abgetrocknet und gefüttert. Wir hatten zum ersten Mal gemeinsam den Weihnachtsbaum geschmückt und die Kerzen angezündet. Sie hatte mich jedes Mal angelächelt, wenn eine neue Kerze entflammte. Alle wussten, dass Xavelia sich immer, wenn irgend möglich, in meiner Nähe aufhielt, und alle hielten dies für normal. Alle waren froh, dass sie durch meine Anwesenheit so angepasst und freundlich war und ich einen guten Einfluss auf sie ausübte. Nichts und niemand warnte uns. Niemand sah die Gefahr, in der wir uns befanden. Niemand nahm wahr, wie wir immer mehr auf natürliche Weise zusammenwuchsen. Xavelia wurde älter und ging auf das vierzehnte Lebensjahr zu. Sie wurde zusehends Frau: groß und schlank, mit hohen Beinen, aber auch mit weiblichen Rundungen. Ich begann, sie immer mehr als Frau zu sehen, und ich wurde unsicher, wie ich mich ihr gegenüber verhalten sollte, sprach aber mit niemandem. Noch hatte ich keine Vorkehrungen getroffen. Wir trieben schon im gefährlichen Fahrwasser. Bald würde ich mit Xavelia auf hoher See sein und kein Land mehr sehen. LIEBESERWACHEN (Xavelia) In der neuen Privatschule habe ich mich nun doch sehr gut eingelebt. Ich wusste nicht, ob ich bleiben würde. Ich bin immer noch scheu und schnell zu vertreiben. Ich bin wild und ungestüm. Ich kann meine Gefühle immer noch nicht vollkommen beherrschen: die Angst, die auftritt und mich überflutet, wenn man mir zu nahe tritt. Die Panik, in der ich Unheil abzuwenden versuche. Die Scham, wieder unterlegen zu sein und nicht Siegerin der Situation. Auch, wenn ich es mir nicht anmerken lasse, was es mich kostet, wenn ich mich gehen lasse, ich fühle mich jedes Mal wie nach einem verlorenen Kampf. Aber die Hoffnung war da, dass ich es schaffen würde, mich einzuleben und meine Abschlüsse nachzuholen. Bei Berret spürte ich, dass ich nicht zu kämpfen brauchte. Er hatte genau das richtige Maß, mir entgegen zu kommen oder auf mich zu warten. Er drängte mich nicht. Er war vorsichtig und empfindsam. Es war, als hätte er viele Antennen ausgefahren, um meine geheime Sprache zu verstehen. Er war auf „Empfang“ eingestellt. Das beruhigte mich. In seiner Nähe konnte ich entspannen. Und er sah so schön aus. Er hatte so weiche, braune Augen. Hatte ich mich schon bald in ihn verliebt? Schwärmte ich schon bald für ihn, wie alle jungen Mädchen es hier taten? Ich kann es nicht sagen. Ich war zunächst mit dem Einleben beschäftigt. Ich bezog mein Zimmer unter dem Dach und richtete es mit vielen bunten Tüchern ein, um eine romantische Stimmung zu schaffen und so oft als möglich meinen Träumen nachhängen zu können. Ich stellte eine Kerze ans Fenster, die später noch eine besondere Bedeutung erhalten sollte. Ich verstaute meine Kleidung, zumeist nur Jeans und Pullover, und einige Erinnerungsstücke im Schrank. Ich schnupperte an meinen Reitsachen, die noch nach meinem Pferd rochen, welches ich lange ausreiten und pflegen durfte und weinte Abschiedstränen. Aber die Zeit auf dem Steidelhof war vorbei. Ich musste neue Schritte gehen, um meine Ziele zu erreichen, und meine Ziele waren mir wichtig. Ich wollte und wollte meinen Schulabschluss, um später mit Tieren und vor allem mit Pferden zu arbeiten. Mein erster Weg am nächsten Morgen war deshalb der zum Kleingehege, um nach meinem Kaninchen zu schauen, und dann an der Koppel vorbei in den Pferdestall. Nicht die anderen Schülerinnen oder Schüler, die mich neugierig umwarben, interessierten mich, sondern wie immer die Tiere. Dort wollte ich viel freie Zeit verbringen und dort traf ich auch wieder auf Berret. Er beachtete mich kaum. Er grüßte knapp und arbeitete weiter, striegelte ein Pferd, bürstete den Schweif, kontrollierte die Hufe, ordnete das Sattelzeug und bereitete es für die Weide vor. Es war Ende April, die Sonne hatte schon an Kraft gewonnen und versprach einen schönen Tag. Ich stand und schwieg, aber nicht lange. Ich nahm Kontakt auf mit den Pferden im Stall, merkte mir ihre Namen und verschwand wieder. Ich bin nicht eingeladen worden, mitzuarbeiten, obwohl ich es gut gekonnt hätte. In der Pferdepflege war ich perfekt. Irgendwann würde ich einsteigen. Es würde nicht zu lange dauern, dann würde man meine Kenntnisse hier schätzen. Ich trieb mich im Haus umher. Noch waren Osterferien und die Tage ungeregelt. Noch waren nicht alle Mitbewohner eingetroffen. Das erfolgte im Laufe des Tages. Im Haupthaus, einem großes Fachwerkgebäude, befand sich im oberen Stock die Wohnung der Familie Gardot. Dort wohnten auch Berrets Schwestern, die ich jedoch erst später kennenlernte. Im Erdgeschoss befanden sich fast über die gesamte Etage der Speise- und Aufenthaltsraum und ein Sekretariat. An einem wuchtigen Holztisch konnten alle, auch wir Schüler, Platz nehmen. Einen Bauernschrank mit schönem Keramikgeschirr sah ich, eine wohnliche Ecke mit flauschigen Decken, einen Korb mit bunter Wolle und Stricknadeln, einen Notenständer vor einem alten Klavier. Ich fühlte mich wohl. Alles war natürlich. Alles atmete. Das war die rechte Luft für mich, das Naturkind, das alles Künstliche verabscheute. Ich schlenderte durch den Raum, ließ meine Hände über die Einrichtungsgegenstände gleiten und schlüpfte aus der quietschenden alten Tür auf den Flur, um mich nebenan im Büro umzuschauen. Dort traf ich Regine, unsere Sekretärin, mit der ich bis heute noch Kontakt pflege. Sie winkte mir durch ein Glasfenster zu, und ich verschwand grinsend durch eine Verbindungstür in der Scheune. Hier fand ich Berrets Eltern, die das Haus leiteten, die Chefs sozusagen. Sie bereiteten sich in den Werkstätten auf das neue Schulsemester vor. Markus, der Vater von Berret, arbeitete in der Holzwerkstatt, Elisabeth, seine Mutter, in der Töpferei Sie überprüfte das ungebrannte Tongeschirr auf den Regalen. Das kannte ich auch vom Steidelhof. Nebenan stand die Tür zum Webraum mit dem großen Webstuhl offen. Schöne bunte Garne gab es dort. Alles das interessierte mich sehr, ich ließ es mir aber nicht anmerken. Ich wollte nicht als Streberin gelten und nicht vereinnahmt werden und so lange als möglich die eigene Entscheidungsfreiheit behalten, welches Fach ich belegen würde. Es war alles gut. Aber eines irritierte mich: Elisabeth schwieg und sie tat das verbissen und es sah aus, als hätte es einen Streit gegeben. So ähnlich sah meine Mutter aus, wenn sie mit meinem Vater eine Auseinandersetzung hatte. Aber Markus, Berrets Vater, war nichts anzumerken. Er begrüßte mich mit sehr viel Interesse. Er hatte Ähnlichkeit mit Berret. Ein Typ mit weicher Stimme und einem vielsagenden und einschmeichelnden Blick, immer ein Lächeln in den Augenwinkeln, oder so ähnlich. Es war mir sehr ungewohnt, ihn einfach beim Vornamen zu nennen. Noch schwieriger schien es mir, Berrets Mutter mit ihrem Vornamen anzusprechen. Dies machten hier aber alle so. Ich tat es nicht. Ich umging die direkte Ansprache. Ich traute beiden nicht, spürte, dass etwas nicht in ihrem Verhältnis stimmte, und setzte meine abweisende Miene auf. Wenn man solch eine Elterntrennung mitgemacht hat wie ich, dann hat man im Gespür, wenn etwas nicht in Ordnung ist. Ein Kätzchen kam herangelaufen, es miaute und strich mir um die Beine. Ich hob es auf den Arm, streichelte es und nahm es mit auf meinem Rundgang nach draußen, über das Kleintiergehege, vorbei an den schweren Findlingsblöcken, über die Wiese zum Schulgebäude und wieder zurück zu dem Wohn- und Schlafhaus der Internatsschüler. Das stand quer zum Haupthaus, war ein langgestrecktes, niedriges Gebäude, in dem sich die Zimmer jeweils im Erdgeschoss und Dachgeschoß aneinanderreihten. Es begrenzte mit dem Haupthaus den gepflasterten Hof. Ich wohnte zuerst unten und später auf Nummer 18 im Dachgeschoß. Das Dach war so flach, dass man beinahe darauf spazieren gehen konnte. Das habe ich ja dann auch ausprobiert – und es hat gut geklappt, wenn nachts alles schlief, mein Zimmer zu verlassen und sozusagen „mondsüchtig“ über das Dach zu turnen. Ich hatte mich bald in Berret verliebt. Er war meine erste Liebe und ich war Feuer und Flamme für ihn, so dass vor allem die Mitschülerinnen bald begannen, mich aufzuziehen. Aber ich verstellte mich, so gut es ging. Ich war es gewohnt, mein Herz nicht zu zeigen und ich legte meine kühle und starre Miene auf, wenn ich ihnen begegnete und das Gespräch auf Berret kam. „Ich doch nicht“ sagte ich. „Ich habe andere Interessen Ich will Pferdepflegerin werden und interessiere mich hauptsächlich für die Tiere“. Trotzdem ging es soweit, dass sie mir eine meiner geheimen Liebesbotschaften entwendeten, die ich in den Nächten schrieb und sie unter Berrets Haustüre schoben. Denn Berret hatte seine eigene Wohnung am Ende des Schülertraktes mit einer eigenen, sehr schweren Eingangstüre aus Eichenholz. Ich wusste das, weil er es einmal erwähnt hatte, dass bei ihm so schnell niemand einbrechen könne. Es war mir nicht unrecht, dass er meine Botschaft erhielt. Er sollte den Absender erraten, deshalb hatte ich meinen Namen darin nicht erwähnt. Wir waren zu dieser Zeit schon über längere Zeit miteinander vertraut. Denn sehr bald hielt ich mich nachmittags, wenn die Schule beendet war, in seiner Nähe auf und half ihm bei der Pflege der Pferde. Ja, ich hatte diese Aufgabe offiziell von seinen Eltern übertragen bekommen und es sprach nichts dagegen, wenn ich mich im Pferdestall und auf der Koppel betätigte oder mit ihm ausritt. Dann war ich versorgt und stellte kein Unheil an. Dann musste man sich nicht mit mir auseinandersetzen. Ich hatte den Eindruck, dass manche mich fürchteten. Ich konnte kalt und abweisend sein und so finstere Blicke werfen, dass die meisten zusammenzuckten. Das war meine Macht. Damit konnte ich mir alle vom Leib halten und bald wagte niemand von meinen Mitbewohnern, mich noch einmal auf Berret oder auf meinen Liebesbrief anzusprechen. Es ging sie nichts an. Das vermittelte ich ihnen deutlich und ich achtete streng darauf, dass niemand mir etwas vorwerfen konnte. Ich hütete meine Briefe jetzt besser und fand ein sicheres Versteck, ich hütete auch meine Zunge und meine Blicke, ich hütete jedes Wort. Ich wurde unnahbar. Je mehr ich meine Gefühle für Berret entdeckte und je mehr ich mich ihm nähern durfte, umso unnahbarer wurde ich für die Anderen. Ich befand mich im Ausnahmezustand. Es bedeutete für mich das größte Glück und das Schönste und Tiefste, was ich bisher erlebt hatte, und ich muss gestehen, dass meine Verliebtheit und das neue Gefühl für einen Menschen die Zuneigung zu den Tieren noch übertraf. Aber nie hätte ich wegen einem Menschen die Tiere vernachlässigt. Wenn Berret das von mir verlangt hätte, wäre meine Verehrung für ihn und mein großes und heftiges Gefühl sicher wie eine Seifenblase zerrplatzt. Da ich ihm niemals solch eine Einstellung zutraute, wuchs mein Glück jeden Tag etwas mehr, wenn ich bei ihm sein konnte. Ich striegelte Abraxis und Akira und sah nach Scheuerstellen, die ich behandelte, ich putzte Balu die Hufe mit dem Hufkratzer und bürstete seinen Schweif, ich führte Abraxis auf die Koppel, um ihn zu reiten. Ich schleppte Mist und ich schleppte neues Heu herbei. Ich teilte Futter aus. Ich versorgte das Kleintiergehege und war überaus fleißig. Ich tat alles, wozu mich Berret aufforderte und wartete auf den Augenblick, an dem wir beide nachmittags am Zaun lehnten und zufrieden und glücklich die Pferde auf der Weide beobachteten, wie sie ihre Freiheit genossen. Der verschwiegenste Glücksmoment aber war, wenn Berret den Arm über meine Schulter legte und er dort kurz verharrte. Dann träumte ich davon, immer mit ihm zusammen zu sein. Das Beste waren jedoch unzweifelhaft unsere gemeinsamen Ausritte, Seite an Seite mit den Pferden. Ich ritt meistens auf Akira. Der Name heißt „Die Strahlende“ und ich strahlte innerlich. Ich fühlte mich aufgewertet, stolz und lebendig. Das Leben konnte gelingen. Alles war gut. Es ging lange so mit uns. Viele Monate, ich glaube, fast ein Jahr liebte ich Berret mit meiner neu erwachten Mädchenliebe, ohne es ihm direkt zu sagen. Er hatte über die geheime Liebesbotschaft geschwiegen. Wahrscheinlich erhielt er häufig solche Nachrichten. Zu meinem Glück fehlte mir aber nichts. Ich war jung. Ich hatte Zeit. Aber es beunruhigte mich und versetzte mir einen Stich ins Herz, wenn Berret manchmal mit den angestellten Erzieherinnen flirtete. Ich hatte Angst, ihn zu verlieren. Ich begann, für mein Glück zu kämpfen. Zu viel hatte ich schon im Leben verloren. Ich fühlte mich den Erwachsenen bald gleichberechtigt und ebenbürtig. Ich wollte die Kindheit hinter mir lassen. DIE PRÜFUNG (Berret) Ich, Berret Gardot, hegte bald eine besondere Zuneigung zu dem Mädchen Xavelia. Aber ich beschäftigte mich nicht sonderlich mit dem Gefühl. Ich stürzte mich heftig in die Arbeit. Davon hatte ich genug. Ich stürzte mich auch in eine kurze Affäre mit einer hübschen, jungen Mitarbeiterin. Ich wusste, ich hatte Chancen bei den Frauen. Wirklich einlassen wollte ich mich jedoch nicht. Niemand berührte wirklich mein Herz. Xavelia ist die Einzige geblieben, an die ich mich band und deren Anwesenheit mich dauerhaft hätte glücklich machen können. Als wir uns nahe kamen, begann ich den Altersunterschied zwischen uns nach und nach zu vergessen. Ich vergaß auch, dass ich als angehender Lehrer ihr gegenüber besondere Distanz hätte wahren müssen. Sie begegnete mir jedoch auf gleicher Augenhöhe, wie ich verwundert feststellte. Ich hatte ein wirkliches Gegenüber, wie mir schien. Sie war gradlinig. Sie ließ sich nicht belügen. Sie war aufmerksam und hatte feine Antennen. Sie merkte sofort, wenn etwas Unausgesprochenes die Atmosphäre störte und sie hatte den Mut, es anzusprechen. Dafür nötigte sie mir Bewunderung ab. Sie konnte aber bei anderen wild und unberechenbar sein. Sie prüfte lange, ob die Menschen vertrauenswürdig waren, und wenige bestanden die Prüfung. Ihre Schroffheit anderen gegenüber war im Haus bekannt und manche fürchteten sich vor ihr. Man hielt sie für schwierig. Man hielt sie für hart, kalt und berechnend. Doch es war Selbstschutz. Sie hatte ein verwundetes Herz. Wenn sie sich bei mir aufhielt, zeigte sie ihre ganz andere Seite. Sie näherte sich mir vorsichtig und aufmerksam, wie sie sich den Tieren näherte. Sie legte die raue und harte Schale ab, sie öffnete sich und ließ mich in ihr Inneres blicken. Dort sah ich ein Wesen, das beides war, zornig und traurig zugleich, das unter der Trennung ihrer Eltern gelitten hatte, das sich Sorgen um die Mutter und die Geschwister machte, das den fremden Partner in der Familie nicht akzeptieren konnte, das immer noch litt, weil es durch Gehörverlust und die fehlende Sprache von der Welt ausgeschlossen war. Ich erlebte eine einsame Xavelia, die sich schon mal an meiner Schulter ausweinte, aber auch eine starke und liebesfähige Xavelia, die all ihre Gefühle tief in ihrem Inneren verbarg. Vor allem aber konnte sie eine unbändige Lebensfreude entwickeln. Ich sah auch mich neben ihr. Ich war ihr voraus an Erfahrung, nicht aber an Stärke. Ich war ihr voraus an Lebensjahren, nicht aber an Mut. Merkwürdig, diese Einsamkeit, die sie empfand, war auch meine Einsamkeit. Ich, Berret, war mit meinen Eltern in einer Heimschule groß geworden. Ich konnte als kleines Kind sehr bald sprechen. Die Sprache wurde mein Element. Dies verleitete meine Umgebung dazu, mich zu bewundern und mir sehr viel zuzutrauen. Doch auch ich vermisste die Liebe meiner Eltern schmerzlich Ich musste sie von Geburt an mit einer Schar fremder Kinder teilen. Das wurde mir bewusst. Fremde Kinder im Haus meiner Eltern, die ihre gesamte Zeit und Zuwendung fraßen wie ein Heuschreckenschwarm. Ich war ihrer oft überdrüssig gewesen. Wie vereinsamt ich war, wurde mir durch Xavelia, klar, als ich sie einmal weinen sah. Auch ich vertraute mich ihr dann an und seit diesem Zeitpunkt waren wir unzertrennlich. Xavelia begann mir immer mehr ihren weichen Kern zu zeigen: ihre Sanftheit, ihre Treue, ihre Fähigkeit zu trösten, wie sie es schon lange bei den Tieren tat. Meine eigene Zuneigung war plötzlich in gefährliches Fahrwasser geraten. Ich begann ihr immer mehr Platz in meinem Leben einzuräumen. Auch sah ich, wie Xavelia mir mit ihren Blicken eindringlich zu folgen begann. Ich roch den Wind ihrer Nähe, der aus den Tropen zu kommen schien und alle Gerüche üppiger Vegetation und den Geschmack von kostbaren Gewürzen mitbrachte. Doch ich klammerte mich an meinen Verstand und verwarf mit aller Kraft den Wunsch, mich ihr noch mehr zu nähern. Trotzdem konnte ich mir selbst nicht verbergen, dass ein Sog entstanden war. Wir begannen, uns Briefe zu schreiben. Sie offenbarte ihre kleinen Geheimnisse und ich antwortete ihr, indem ich ihre Rechtschreibung verbesserte und Zeichen der Zuneigung hinzufügte, die sie zu deuten wusste. – Wir erfanden einen Geheimcode. Für mich war es noch ein Spiel. Wie oft hatte ich mich in meiner Jugendzeit, die noch nicht so lange zurück lag, auf solche Spiele mit den Mädchen im Hause eingelassen. Die Grenzen verwischten sich. Ich stürzte mich weiter in so viel Arbeit, wie möglich und redete mir ein, der Zustand ginge bald wieder vorüber, wie es immer war. Ich reparierte Autos von Freunden, wozu ich eine große Begabung hatte. Ich gab Reitkurse. Ich machte die Buchhaltung des Hauses bis tief in die Nacht. Meine Arbeit in Schule und Wohnbereich musste ich zu eingeteilten Zeiten erfüllen. Zu den Aufgaben im Wohnheim, in dem ich ab dem Nachmittag tätig war, gehörte auch das Zeremoniell am Abend. Die Kinder und Jugendlichen wurden mit besonderer, persönlicher Zuwendung in die Nacht verabschiedet. Man sprach mit jedem ein nettes Wort. Manche erhielten medizinische Anwendungen oder Medikamente. Xavelia erhielt abends ein Fußbad und man massierte anschließend ihre Füße mit einer Salbe ein, um die Schwielen zu behandeln, die sie von der Arbeit in Hof und Stall davongetragen hatte. Sie mutete sich viel zu. Ich durfte diese Zeremonie einmal übernehmen. Es war ein Abend, bei dem wir eine Intimität erlebten, die den Abstand noch mehr verringerte. Wir sahen uns schüchtern und verschämt in die Augen, in denen wir unsere Gefühle lesen konnten, wenn wir wollten. Aber ich wollte sie nicht wahrhaben. Ich ging schnell davon. Es geschah an einem Abend, als meine Eltern im Theater waren und ich die Aufgabe übernommen hatte, sie zu vertreten. Ich schaltete gegen 23.00 Uhr den Computer aus und machte noch handschriftliche Aktennotizen. Das Haus war still. Alles schlief. So schien es. Ich wollte bald das Licht löschen. Da sah ich Xavelia über den dunklen Gang auf mich zukommen Sie kam wie eine Elfe zu mir geschwebt und setzte sich auf meinen Schoß. Sie umschlang mich und weinte still und untröstlich an meiner Schulter. Sie gestand mir, dass sie verzweifelt sei wegen unseres Altersunterschiedes, dass sie sich innig wünschte, älter zu sein, weil es ihr dann erlaubt sein würde, immer mit mir zusammen zu sein. Dann gab sie mir einen Kuss auf die Wange und verschwand wieder im dunklen Gang. Ich hörte, wie die Treppe nach oben leicht knarrte. In dieser Nacht tat ich kein Auge zu. Die Dämme waren gebrochen. Hatten wir uns vorher nicht immer wieder ohne Absicht liebevoll berührt, aber so getan, als wäre die Berührung zufällig? Waren wir nicht längst schon eine heimliche Einheit geworden? Es war geschehen und nicht mehr ungeschehen zu machen. Ich habe ihr Geständnis unwidersprochen angenommen. Jeder weitere Schritt war strafbar. Ich wollte die Grenzen zwischen uns nicht überschreiten, aber gleichzeitig wollte ich sie lieben mit meinem ganzen Herzen, mit aller Kraft, aber ich würde mit ihr zusammen ins Unglück stürzen, wenn ich nichts dagegen unternahm. So sollte es auch kommen, obwohl ich zunächst das Verhängnis abwehren konnte. Aber ich tat wohl nicht das Richtige: mich meinen Eltern anzuvertrauen. Warum tat ich das nicht? DIE FLUCHT (Berret) Ich, Berret Gardot, wollte nicht die Gesetze übertreten. Ich wollte uns vor unüberlegten Handlungen schützen. Noch sah ich klar. Ich wollte der unerlaubten Liebe entfliehen. Wusste ich doch, dass ich laut Gesetz und als Lehrer und Erzieher der Einrichtung keine Verbindung mit einer Schülerin eingehen durfte. Am nächsten Morgen erbat ich mir dringlich eine Auszeit von meiner Anstellung als Praktikant. Ich wollte Bedenkzeit. Ich sprach mit solcher Dringlichkeit, dass mein Vater einwilligte, ohne eine Frage zu stellen. Wahrscheinlich hatte er verstanden, was in mir vorging, denn sein Blick ruhte länger auf mir als sonst. Hätte er doch nur Fragen gestellt! Aber er tat es nicht und im Innern war ich froh und erleichtert darüber. Ich hob mir ausreichend Geld von meinem Konto ab, nahm meine Papiere, schnürte heimlich meinen Rucksack und mein Zelt. Ich buchte einen Flug nach Andalusien. Ob ich zurückkehren würde, wusste ich nicht. Xavelia ging ich an diesem letzten Tag aus dem Weg und schrieb ihr in der Nacht vor meiner Abreise folgenden Brief: „Liebe Xavelia, Du musst jetzt stark und tapfer sein. Ich bin verreist und habe diese Entscheidung bei Nacht und Nebel getroffen. Ich tue es für uns beide. Du hast mir Deine Liebe erklärt und ich liebe Dich auch. Du wirst es sicherlich verstehen. Aber ich muss verreisen, um Zeit zum Nachdenken zu haben. Ich möchte nicht, dass Dir und mir ein Leid geschieht. Ich möchte, dass unsere Liebe eine wirkliche Chance hat. Diese Reise fällt mir schwer. Fern von Dir zu sein, ist ein unerträglicher Gedanke! Ich habe den großen Wunsch, dass Du mir glaubst, dass ich diese Entscheidung nur aus Liebe getroffen habe. Betreue unsere Tiere gut, so, als wäre ich da. Ich vertraue Dir Abraxis an, mein Pferd. Sorge gut für ihn. Es kann lange dauern, bis ich wieder zurück bin. Aber ich komme, wenn die Zeit dafür besser ist als jetzt, Dein Berret“ Zwei Stunden später startete ich heimlich und leise. An der Straßenecke wartete mein Freund Paul mit seinem Auto. Paul fuhr mich zum Flughafen. Er war der Einzige, den ich in die Situation halbwegs einweihte. „Paul“, sagte ich zu ihm, „ich muss hier weg! Ich bin in eine Sache hineingeschliddert, aus der ich nicht mehr heraus komme. Gefühle, weißt du! Verbotene Gefühle! Heute Nacht geht mein Flug“. Er sah mich an, ohne zu fragen. „Verstehe“, antwortete er nur. „Ich bringe dich zum Flughafen“. „Danke“, sagte ich. „Ich weiß nicht, ob ich zurückkomme“ Paul wartete pünktlich auf mich an der Straßenecke. Wir schwiegen während der ganzen Fahrt. Als wir uns am Flughafen verabschiedeten, klopfte er mir Mut machend auf die Schultern. „Alles Gute“, sagte er, aber es war so ernst gemeint, wie es ein Freund nur meinen kann. Ich war froh, dass er nichts gefragt hat und dass ich den Namen „Xavelia“ nicht aussprechen musste. Ich verließ Deutschland. Ich bewunderte die Leichtigkeit, mit der das Flugzeug von der Erde abhob, in mir sah es anders aus. Als das Flugzeug von der Erde abhob, erfasste mich ein nie gekannter Schmerz, so, als reiße er mich auseinander. Eine Hälfte blieb bei Xavelia auf der Erde, die andere floh vor einer unüberwindbaren Leidenschaft in dunkle Wolken davon. Vier Stunden später kam ich in Sevilla an. Dort schien die Sonne. Ich hatte vor, nach Cadiz weiterzureisen. In Cadiz hatte ich einmal das wilde Leben genossen und diese Stadt als Ort der Ablenkung und Zerstreuung tief im Gedächtnis behalten. Ich hätte also gleich nach Cadiz weiterreisen können. Aber irgendetwas in mir wollte noch Zeit gewinnen. In Cadiz hätte es herrliche Strände gegeben, der alte Stadtkern mitten auf einer Landzunge zwischen Wassern erbaut. Vom Hafen fahren Schiffe nach Afrika und den Kanarischen Inseln. Vielleicht sollte ich mich absetzen. Nie mehr zurückkehren. Der Gedanke schmerzte. Nadelstiche. Xavelia nähte eine Naht in mein Muskelgewebe, das sich Herz nannte. Mitten in meiner Brust klaffte, für andere unsichtbar, die ungelenk vernähte, weiter blutende Wunde. In die Tasche hatte ich Landkarten eingepackt. Vorsorglich. Vielleicht zöge ich auch gegen Norden. Ich hatte gehört von der Ruta de la Plata, der Silberstraße in die Einsamkeit. In das Bergland zur portugiesischen Grenze. Und dann immer der Grenze entlang. Eine Gratwanderung, vielleicht nach Santiago de Compostela. Wochenlang gehen, alleine gehen, den Absturz riskieren, die Gefahr spüren, Einsamkeit. Das wollte ich. Ich spürte es dunkel, noch ungeboren in mir: Ich, Berret Gardot, vierundzwanzig Jahre alt, sollte aufbrechen. Ich sollte meine Familie verlassen und mein geliebtes Zuhause, meine Tiere, mein Pferd, die Weite der Hochebene, den Blick auf die Alpen, um nie mehr zurückzukehren. Ich gehe, um erwachsen zu werden, auch wenn die Nadelstiche hundertfach mein Herz durchstechen. Wege der Einsamkeit sollte ich gehen, dessen war ich mir jedenfalls sicher, als das Flugzeug in Sevilla zur Landung ansetzte. Es war früher Morgen. Ich suchte mir ein Quartier. Am Abend auf den quirligen und belebten Straßen von Sevilla, wo das Leben pulsierte, auf der Plaza, auf der ich mich bis weit in die Nacht herumtrieb, kamen mir dann doch Zweifel. Die Musik der Flamencos und der Fandangos, die Tänze auf den Straßen versetzten mich in einen Rausch und verführten mich zu bleiben. Ich fand mich zu jung, um mich wirklich der Ernsthaftigkeit meiner Situation zu stellen. Ich erlag der Verführung und der Oberflächlichkeit. Ich war nicht mehr gewillt, meine Zukunft mit Nadelstichen im Herzen zu leben. Ich wollte vergessen! Statt in die Einsamkeit der Berge trieb es mich in die lebhafte Stadt. Dort, dachte ich, könnte ich am besten vergessen. Ich stürzte mich ins Nachtleben. Den einsamen Weg ins Gebirge, die Ruta de la Plata entlang der portugiesischen Grenze sollte ich Jahre später erst später gehen. Ich durchlebte die Nächte bei Festen und Feiern, wie sie im Sommer in Sevilla üblich sind. Ich tanzte mit den Frauen aus Sevilla Flamenco, sah bunt bemalten Fächer vor ihren schwarzen Augen wedeln und hörte das Klappern der Kastagnetten in ihrer Hand. Ich ließ alles hinter mir. Dann schloss ich mich einer Gruppe junger Leute an, die den Sommer am Meer verbringen wollten. So reiste ich doch noch nach Cadiz. Immer waren junge Menschen um mich, Mädchen, dunkle Schönheiten. Das Leben der Jugend Andalusiens war frei und ohne Tabus. Ich teilte es. Aber ich vergaß trotzdem nicht. Die Stiche im Herzen kehrten zurück. Sie kamen meistens in der Nacht. Irgendwann wusste ich, dass ich verlieren würde gegen das Erinnern. Eine Entscheidung musste getroffen werden: Rückkehr oder Weiterreise! Am Ende meiner Reisezeit stand ich am Kai von Cadiz und sah den Schiffen nach, die zu den Inseln oder nach Afrika aufbrachen. Ich trieb mich jetzt stundenlang dort herum. Ich schlief eine Nacht in der Bucht nahe am Hafen, eingewickelt in meinen Schlafsack, und hörte den Wogen des Wassers zu. Ich lag dort lange und dachte an Xavelia. Wenn man eine tiefe Verbindung eingegangen ist, wie Xavelia und ich es getan hatten, kann man sie nicht so leicht lösen. Ich nahm mir viel vor. UNBEIRRBAR (Xavelia) Berret fort. Einfach so! Ich fiel in ein tiefes Loch. Immer wieder las ich seinen Brief. Ich verstand zunächst nichts. Ich hatte mich nie geschert darum, was die Menschen von mir wollten. Gesellschaftliche Schranken waren mir unbekannt geblieben. Ich wollte noch nichts davon wissen. Ich wollte nur in das Abenteuer meines eigenen Lebens eintauchen. Es hatte gerade erst begonnen. Deshalb fühlte ich nur den Schmerz über die Trennung. Dieser Schmerz und die Enttäuschung machten mich den Menschen gegenüber wieder kalt und berechnend. Ich schuldete ihnen nichts! Als ich noch ein ganz kleines Kind war, ging ich in den Garten und verkroch mich im Gebüsch oder versteckte mich in dem wild wachsenden Weidenbaum am Bachufer. Ich saß dort oben in den Zweigen weit weg von der Welt, weit weg von hier träumte ich mich. In einem fernen Land, unter Lianen und Urwaldgewächsen roch es nach feuchter Erde und einer Echse gleich hing ich im Regen unterm Blättergrün. Niemand konnte mich finden. Ich aalte mich in der tropischen Hitze und suchte die gleißende Sonne auf einem freiliegenden Stein. Ich hörte dem Geschrei der Papageienvögel zu und dem Kreischen des Affenvolkes. Ich sah den Panther schleichen und verschwand raschelnd im Erdloch unter dem Gras. Ich war sicher in meinem Versteck. Jetzt aber, wo sollte ich hin? Fliehen vor dem Gestänker der Erzieherinnen, wenn ich nicht tat, was sie befahlen? Die Schule wieder schwänzen, wenn ich das Eingesperrtsein im engen Raum mit einer Meute Schülerinnen und Schülern nicht ertrug? Wenn die Lehrer Aufmerksamkeit verlangten für Dinge, die mich nicht interessierten? Ich hatte nur eine Wahl. Ich musste hinaus in die freie Natur. Ich musste zu den Tieren. Dort konnte ich atmen. Dort, bei meiner Stute Akira fühlte ich mich gebogen – sie sagte nichts und verlangte nach Äpfeln und Stroh. Sie wartete, dass ich mit ihr ausreiten würde. Ja, Akira, meine Stute, sie würde mich trösten. Das wusste ich. Die Tiere gaben mir Rückhalt und das Gefühl der Verlässlichkeit. Ich konnte sie in ihren Reaktionsweisen durchschauen. Die Menschen nicht. Das hat Berrets Abreise wieder mal bewiesen. Akira tröstete mich, indem sie mich auf ihrem Rücken durch die Welt trug. Dahinfliegen am Wiesenrand, sich konzentrieren müssen auf den Augenblick, auf mein Pferd, im Vertrauen, dass es einen guten Weg mit mir ritt. Vor der Dunkelheit zurückkehren, es abtrocknen und mit Hafer versorgen, mit Äpfeln und Möhren. Den Stall ausmisten und mit Stroh auslegen, damit es gut schlief. Das waren die Dinge, die mir wieder Kraft gaben. Dann täglich Berrets Pferd Abraxis versorgen, es auf der Koppel reiten und an Berret denken. Wissen, dass er wiederkommen wird. Glauben. Fest glauben daran, dass er gegangen war, um eine Lösung zu suchen und zu finden. Schließlich die Kaninchen füttern, sie im Arm durch den Garten tragen oder sie hinter mir her hüpfen sehen. Den Regen und die Sonne, den Sturm und den Schnee lieben an Stelle von Berret. Es waren ja dieselbe Sonne, die mich beschien und derselbe Regen und derselbe Sturm, die Berret und mich umgaben. Sollte er nicht vorher zurückgekehrt sein, würde er mir auch noch seinen Schnee schicken, der auf ihn herabfiel. Es würde seine Botschaft sein, dass er zurückkam, dessen war ich mir sicher. Mit Berret zusammen sein. Frei sein. Nicht mehr im Kerker der Sprachlosigkeit, wie es einst mal war. Neu geboren sein. Ich hatte es gleich von Anfang an gewusst. Ich hatte gewusst, dass ich bald erwachsen werden würde und zwar in dem Moment, als wir uns zum ersten Mal begegneten und wir schweigend die Schritte zählten, die wir aufeinander zugingen. Weil er mir so entgegenkommen konnte, warten, bis ich ging, warten auf meinen Schritt, deshalb begann ich ihn zu lieben. Der Mensch wird ein Stück erwachsen, wenn er zu lieben beginnt, egal, wie jung er ist. Das Lieben ist immer mit dem bittersüßen Schmerz verbunden, der Gefahr der Verwundung, der Täuschung und dem existentiellen Scheitern. Auch ich war plötzlich ein Stück erwachsener geworden. Ich fühlte die Süße und den Schmerz. Die Vergangenheit meiner Kindheit wollte ich hinter mir lassen. Meine Zornesausbrüche waren berühmt. Wenn man mich unter Druck setzte, verlor ich den Verstand. Ich begann zu beißen, wie die Hunde, wenn man in ihr bewachtes Reich eindrang, und zu treten wie die Pferde, wenn sie sich erschreckten und bedroht fühlten. Ich hatte das alles von den Tieren gelernt, die meine Lehrmeister waren. Na und? Nicht die schlechteste Art, sich verteidigen zu können, wenn man angegriffen wurde. Die Forderungen der Erzieher, der Lehrer und meiner Mutter empfand ich früher durch mein „Nicht hören können“ als Angriff. Denn ich konnte ihren Anweisungen nicht folgen. Ich hatte zu lange in der Taubheit gelebt. Ich war gekränkt und bestraft worden, ohne dass jemand die wirklichen Ursachen meiner Verweigerung verstand. Ich, das Kind, musste lange lernen ihre Sprache zu verstehen. Es war schrecklich. Ich wurde immer wilder. Denn die Menschen, die ich lieben wollte, verlangten etwas, das ich nicht erfüllen konnte. Ich war verzweifelt wegen meiner Unfähigkeit. Ich verweigerte mich. Die Tiere verlangten nichts, was ich nicht erfüllen konnte. Ich gab ihnen Futter und Zuwendung, und sie dankten es mir mit Anhänglichkeit. Die Tiere wurden meine Lehrmeister. Ich lernte auch von ihnen Grenzen anzuerkennen und Grenzen zu setzen. Ich lernte meinen starken Willen kennen. Durch die Tiere verstand ich aber auch, dass ich mich wieder den Menschen nähern sollte. Das war der neue Weg. Was es bedeutet, von einem Menschen ernst genommen zu werden, sein Herz zu gewinnen, mit ihm zärtliche Gedanken auszutauschen und zärtliche Gesten, das habe ich erst durch Berret erfahren. Ihm zuliebe bemühte ich mich, seinen Auftrag auszuführen und mutig zu sein. Ich ging zur Schule und machte meine Aufgaben. Aber ich sprach unaufgefordert mit niemandem. Ich gab nur karge Antworten, wenn ich angesprochen wurde. Ich aß nicht, oder nur ganz wenig, wenn man mich drängte. Ich nahm mein Brot und meinen Apfel mit zu den Pferden, nahm meine Mahlzeit bei ihnen ein und wartete auf Berrets Rückkehr. Ich vertraute unbeirrbar darauf, dass er zurückkommen würde. Ich glaubte an ihn. Was sollte ich auch sonst tun? Ich wartete unbeirrt und erfüllte meine Aufgaben. Manchmal hörte ich von seinen Eltern bei Tisch kleinere oder größere Mitteilungen, wo er sich aufhielt und wie es ihm ging. Aber ich richtete keine Fragen an sie. Конец ознакомительного фрагмента. Текст предоставлен ООО «ЛитРес». Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию (https://www.litres.ru/rose-zaddach/nadelherz/?lfrom=196351992) на ЛитРес. Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.